Knapp drei Wochen bleiben noch bis zum Beginn der 22. Ausgabe des vom DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum veranstalteten goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films (19. bis 25. April) in Wiesbaden und der Rhein-Main-Region. Ein Teil des Programms wird online in Zusammenarbeit mit dem VOD-Anbieter Filmwerte zur Verfügung gestellt.
In Zeiten von Krieg und Kulturboykott wenige Wochen vor Festivalbeginn positioniert sich das goEast Filmfestival erneut zum vollständigen Boykott russischer Filmschaffender, der von ukrainischen Institutionen gefordert wird. Die Festivalmacher:innen von goEast haben lange darüber diskutiert, wie mit der Boykottforderung in der aktuellen Kriegssituation umzugehen ist und machen einen Kompromiss: goEast veranstaltet am Samstag, 23. April, um 18 Uhr in Kooperation mit unabhängigen Filmschaffenden, Vertreter:innen verschiedener ukrainischer Institutionen und Festivals ein von Festivalleiterin Heleen Gerritsen moderiertes Panel in der Caligari FilmBühne, wo die ukrainischen Teilnehmer:innen den Boykott aus ukrainischer Perspektive diskutieren und ihre Positionen und Ziele erläutern werden. Insgesamt drei russische Filme im Programm, die staatliche Förderung bekommen, oder von Stiftungen finanziert werden, die an die russische Regierung, d.h. den Präsidenten gebunden sind, werden nicht gezeigt. Die Filme "Hausarrest" (Delo, Russland/ Deutschland/ Kanada 2021) von Alexei German Jr. und "Donau" (Dunay, Russland 2021) von Lyubov Mulmenko wurden von den Filmschaffenden zurückgezogen. Somit besteht der diesjährige Wettbewerb nur aus 14 Filmen. Ebenso wird es in der Sektion Bioskop eine Lücke geben: Regisseurin Ekaterina Selenkina hat ihren Film "Umwege" (Obkhodniye puti, Russland 2021) aus dem Programm zurückgezogen. Stellungnahmen der russischen Filmemacher:innen sind auf der goEast-Website nachzulesen. Die zurückgezogenen Filme werden nicht ersetzt – in Kriegszeiten sind Lücken im Programm durchaus angemessen.
Die goEast-Auswahlkommission positioniert sich ebenfalls:
"Seit Jahren haben wir die politische Entwicklung in Russland – Militarisierung, Abbau der Rechtsstaatlichkeit, das Einkassieren von Menschenrechten, das Salonfähigmachen des Stalinismus, Oligarchentum etc. – problematisiert, waren ein Forum vor allem für oppositionell-dissidentische Stimmen. Solange die Russische Föderation diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, steht die Auswahlkommission hinter der Entscheidung des Festivals, keine staatlich finanzierten russischen Filme zu zeigen. Business as usual ist nicht möglich. Für einen vollumfänglichen kulturellen Dialog müssen erst die Waffen schweigen. Die Stimmen ukrainischer Filmemacher*innen zu hören, muss Priorität sein."
Träume, Familiendramen und die harte Realität – der goEast Wettbewerb
Mit dem Herzstück des Festivals, dem Wettbewerb, bietet goEast einem breiten Publikum die Chance, Höhepunkte des aktuellen mittel- und osteuropäischen Films näher kennenzulernen. Eine fünfköpfige internationale Jury vergibt drei Preise im Wert von insgesamt 21.500 Euro und die Jury der FIPRESCI vergibt zwei Preise der Internationalen Filmkritik. Besonders begehrt: die mit 10.000 Euro dotierte "Goldene Lilie" als Hauptpreis des Wettbewerbs von goEast.
Träume und der Wille, selbstbestimmt zu leben, verbinden mehrere Filme des Festivals miteinander: Im kosovarischen Wettbewerbsbeitrag "Vera träumt vom Meer" (Vera Andrron Detin, Kosovo/ Albanien/ Nordmazedonien 2021) der Regisseurin Kaltrina Krasniqi befindet sich die Hauptfigur Vera nach dem Selbstmord ihres Mannes im freien Fall. Als ihr von einer Dorfgemeinschaft das Erbe abgesprochen werden soll, kämpft sie entschlossen für ihr Recht. Der Frage, was eigentlich ihr Traum ist und wie viel sie bereit ist dafür zu geben, muss sich Bodybuilderin Edina im ungarischen Spielfilm "Sanft" (Szelíd, Ungarn/ Deutschland 2022) des Regieduos Anna Nemes und László Csuja stellen. Mit kleinen Gesten lehnt sie sich gegen die Unterdrückung durch ihren Partner und Trainer auf und muss dabei aufpassen, ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Der armenische Dokumentarfilm "5 Träumer und ein Pferd" (5 Yerazoghnery Yev Dzin, Armenien/ Deutschland/ Schweiz/ Georgien/ Dänemark 2022) folgt seinen Protagonistinnen und Protagonisten bei der Verwirklichung ihrer Träume, die so unterschiedlich wie die Menschen sind. Die Regisseure Vahagn Khachatryan und Aren Malakyan haben einen poetischen Film voller menschlicher Wärme geschaffen. Ebenfalls poetisch gestaltet sich das Traummotiv im Dokumentarfilm"Mara" (Frankreich/ Belarus 2022) der belarussischen Regisseurin Sasha Kulak. Inmitten der Proteste gegen den Diktator Lukashenka streift eine Figur umher – wahlweise mit Gipsmaske und Krone oder mit langer roter Schleppe – in den Protestfarben der belarussischen Revolution manifestiert sich Mara, was im Alt-Russischen so viel wie Traum oder Hoffnung bedeutet, und die die Menschen mit (Alb-)Träumen heimsucht. Hoffnung braucht die 14-jährige Nastya im dokumentarischen ukrainischen Kriegsporträt "Taubes Gestein"(Terykony, Ukraine 2022). Solange sie sich erinnern kann, herrscht nahe ihrem Dorf in der Ostukraine Krieg und trotzdem träumt sie von einer normalen Kindheit – der Film von Taras Tomenko führt die Realität in der Ostukraine schon vor dem 24. Februar 2022 schmerzlich vor Augen.
Paardynamiken sind ebenfalls ein Thema, das in den Wettbewerbsbeiträgen immer wieder auftaucht. Das Familiendrama "Klondike" (Ukraine/ Türkei 2022) spielt ebenfalls an der Front, mitten im Krieg an der ukrainisch-russischen Grenze. Im Zentrum des Films der ukrainischen Regisseurin Maryna Er Gorbach steht ein Paar, das ein Kind erwartet aber die Kampfzone nicht verlassen möchte. Ganz anders das Paar im polnischen Beitrag "Stilles Land" (Cicha Ziemia, Polen/ Italien/ Tschechien 2021) der Regisseurin Aga Woszczyńska, das im Urlaub einen tödlichen Unfall beobachtet, tatenlos zusieht und sich dabei immer tiefer in Lügen verstrickt. Der Film entlarvt mit intensiver Bildsprache die hässliche Fratze der Wohlstandsgesellschaft hinter einer vermeintlich perfekten Fassade. Im serbischen Drama "Der Falke" (Strahinja Banović, Serbien/ Luxemburg/ Frankreich/ Bulgarien/ Litauen 2021) kämpft ein Ehepaar aus Ghana um ihr Recht, in Europa zu leben und glücklich zu sein. Der Regisseur Stefan Arsenijević inszeniert die Liebesgeschichte zweier Geflüchteter mit geschickten Anspielungen auf den serbischen Nationalhelden Strahinja Banović. "Nuuccha" (Russland 2021), ein jakutisches Kolonialdrama des Regisseurs Vladimir Munkuev, spielt im späten 19. Jahrhundert im sibirischen Jakutien. Ein ungewollt kinderloses, indigenes Paar muss einen russischen Sträfling bei sich aufnehmen, der seine Rolle als Gast nicht respektiert.
Im litauischen Wettbewerbsbeitrag "Pilger" (Pilgrimai, Litauen 2021), einem Krimi von Laurynas Bareiša, begeben sich zwei Menschen auf einen Roadtrip. Ein unaufgeklärter Mord soll gerächt werden und die Reise entpuppt sich bald als Trauerbewältigung der besonderen Art. Der bulgarische Film "Januar" (Yanuari, Bulgarien/ Luxemburg/ Portugal 2021) von Andrey M. Paounov sticht visuell hervor: In Schwarz-Weiß und in Farbe erzählt er mit dem Vokabular von Thriller und Horror und vor dem Hintergrund einer Hotelruine eine Geschichte von denen, die tief in der Provinz leben und vergessen scheinen. Fast vergessen, aber immens wichtig sind auch die Arbeiter:innen im Dokumentarfilm "100% Baumwolle" (COTTON100%, Usbekistan/ Deutschland 2021) vom usbekischen Regisseur Mikhail Borodin. Zwei beeindruckende Frauen kämpfen für die Grundrechte der oft zwangsweise rekrutierten Menschen, die die so beliebte Baumwolle ernten. Dokumentarisch beobachtend zeigt der belarussische Filmemacher Ruslan Fedotov in "Where are we headed" (Belarus/ Russland 2021) die Moskauer Metro als Spiegel der russischen Gesellschaft. Im Rhythmus der U-Bahnen entstehen schöne und auch erschreckende Bilder. Erschreckend ist auch, was "Babyn Jar. Kontext" (Babi Yar. Contekst, Niederlande/ Ukraine 2021) offenbart. In einem der schlimmsten Massaker der Geschichte wurden zehntausende Juden und Jüdinnen 1941 von einem deutschen Sonderkommando in Kyiw kaltblütig ermordet. Sergei Loznitsa erzählt gründlich recherchiert und mit viel Archivmaterial eine schreckliche Geschichte von Krieg, Tod, Verwüstung und Trauer.
Der goEast Eröffnungsfilm – warmherzige Begegnungen auf Abstand in "Der Balkonfilm"
Der polnische Dokumentarfilmemacher Paweł Łoziński wagt mit "Der Balkonfilm" (Film balkonowy, Polen 2021) ein Experiment. Von seinem Balkon aus interagiert er mit den Passantinnen und Passanten auf dem Gehweg und fängt ihre ganz unterschiedlichen und persönlichen Geschichten mit der Kamera ein. So entsteht aus einer statischen Situation über zwei Jahre hinweg eine Vielfalt an Blickwinkeln, Lebensentwürfen und Realitäten in der Welt und im heutigen Polen. Wie "Der Balkonfilm" zeigt, ist Paweł Łoziński ein Meister der innovativen Annäherung an seine Protagonistinnen und Protagonisten. Er erschafft immer wieder intime und emotionale Porträts. In einer Masterclass im Rahmen des East-West Talent Labs wird der Regisseur seine Erfahrungen als Filmemacher teilen und Einblick in seine Arbeitsweise geben.
Feminismus, Familie und Film Noir – das goEast Bioskop
Während die Filme im Wettbewerb in der Regel bei goEast eine Premiere feiern, ist dies bei den Filmen des Bioskops kein Muss. In sieben Filmen können die Kinobesucher:innen 2022 ein Panorama des aktuellen Kinos Mittel- und Osteuropas erleben. Im Drama des bulgarischen Regieduos Mina Mileva und Vesela Kazakova "Das Weinen der Frauen" (Women Do Cry, Bulgarien 2021) kämpfen drei Schwestern in ganz unterschiedlichen Situationen um Gleichberechtigung und Anerkennung in der frauenfeindlichen Gesellschaft Bulgariens. Auch im Film "Wet Sand" (Schweiz/Georgien 2021) geht es um eine kämpferische Frauenfigur, Moe, die in den Heimatort ihres verstorbenen Großvaters zurückkehrt und dort auf viele Geheimnisse und Homophobie trifft. Damit will sie sich nicht abfinden – der Film der georgischen Regisseurin Elene Naveriani ist ein starkes Plädoyer für Akzeptanz und Liebe.
Regie-Altmeister Wojciech Smarzowski nimmt sich in"Der Hochzeitstag" (Wesele, Polen/Lettland, 2021) dem in Polen traditionsreichen Genre des Hochzeitsfilms an. Doch während dieses klassischerweise ins Komische abdriftet, verknüpft Smarzowski den "schönsten Tag des Lebens" mit der düsteren Geschichte des Ortes, an dem dieser gefeiert werden soll – der Holocaust und die polnische Kollaboration bei der Judenverfolgung sind im Film eng verwoben mit dem Opportunismus und Rassismus der Gegenwart. Auch Oscarpreisträger Danis Tanović ist mit einem neuen Film im Bioskop vertreten: In "Nicht so freundliche Nachbarschaftssache" (Deset u pola, Bosnien Herzegovina, 2021) liefern zwei Ćevapčići-Bratmeister sich eine erbitterte Familienfehde um den Titel der besten Fleischröllchen Sarajevos – inklusive Romeo-und-Julia-Lovestory ihrer beiden Kinder.
Radu Muntean lässt in "Întegralde" (Rumänien 2021) Jung und Alt, Stadt und Land, Privilegiert und Abgehängt aufeinandertreffen – und das ausgerechnet nachts im transsilvanischen Wald. Entstanden ist ein Roadmovie mit Horrorelementen, das Klassenunterschiede, Vorurteile und Empathie studiert. goEast-Stammgast Adilkhan Yerzhanov steuert mit "Herdenimmunität" (Onbagandar, Kasachstan/Frankreich 2021) einen Kommentar zur Pandemie in einer abgelegenen und durch und durch korrupten Kleinstadt bei. Im Zentrum dieses absurd-komischen Films mit Neo-Noir-Referenzen steht ein Polizist, der seine Träume trotz Coronaausbrüchen verwirklichen will.
Akkreditierungsaufruf & goEast Pressekonferenz am 13. April
Pressevertreter:innen können sich hier ab sofort für das goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films akkreditieren. Während des Festivalzeitraums erhalten akkreditierte Fachbesucher:innen und Pressevertreter:innen auch Zugriff auf eine Online-Mediathek mit Beiträgen des Festivalprogramms.
Die Pressekonferenz zur 22. Ausgabe von goEast findet am Mittwoch, 13. April 2022, um 11 Uhr in der Caligari FilmBühne und parallel als Videokonferenz statt. Um Anmeldung wird gebeten. Die Einwahldaten für die Online-Teilnahme werden im Vorfeld über ein gesondertes Einladungsschreiben versendet.
Quelle: Filmfestival goEast