Inhalt
Seit zwanzig Jahren sitzt Hannes Kass hinter dem Lenkrad seines Fernlastzuges. Er ist mit seinem Land fest verwachsen, lebt für seine Arbeit, sein Auto. Da reißt ihn ein junger Spund, ein phantasievoll flunkernder Anhalter, aus seinem gewohnten gleichförmigen Lebensrhythmus. Das Abitur in der Tasche, nach vierwöchigem Studium dem althochdeutschen Seminar entflohen, tippelt dieser Herb durch die Republik, sieht sich hier und da um, ohne sich für sein Morgen schon festlegen zu wollen. Aus der zufälligen Begegnung der beiden so unterschiedlichen Männer erwächst eine echte Kameradschaft; Herb wird Hannes′ Beifahrer. Dem Jüngeren imponiert die gelassene, doch klare Weltsicht des "Chefs", diesem die Intelligenz und der Wissensdrang des Neulings. Beide gelangen, unbewusst vorerst, zu neuen Einsichten über sich und ihr Leben, die konkrete Formen annehmen, als Johanna, eine junge Frau, mit ihrem Kind den Weg der beiden kreuzt.
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Herb Schneider, ein empathischer Zwanzigjähriger, der in einer vorangegangenen Szene einer Familie über die Straße half, hat bei der paramilitärischen Gesellschaft Sport und Technik (GST) seinen Führerschein gemacht („ist billiger“) und tischt Hannes eine wilde Geschichte auf als „milieugeschädigter“ Sohn eines Alkoholikers, der es in der Schule nur bis zur sechsten Klasse geschafft hat und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält. Dafür redet Herb freilich viel philosophisches Zeugs, zitiert Friedrich Schiller und Thomas Mann bei passenden Gelegenheiten wie der Schiffstaufe der „Saint Michel“ in Warnemünde und geht dem „Chef“ am Steuer inzwischen mächtig auf die Nerven.
Der revanchiert sich auf der Rückfahrt bei strömendem Regen in die Hauptstadt mit einer angeblichen Zylinderkopf-Havarie, bei deren Reparatur sich Herb eine schwere Lungenentzündung zuzieht. Im Krankenhaus verspricht Hannes dem abgebrochenen Germanistik-Studenten, der nach vier Wochen Althochdeutsch-Vorlesungen das Handtuch geschmissen hat, ihn als Beifahrer dauerhaft an Bord „seines“ Skoda-Trucks zu nehmen als Ersatz für Heinrich, der einen eigenen Wagen erhalten hat. Bei Herbs Jungfernfahrt geht’s über eine so gut wie leere Autobahn, sodass er ans Steuer darf.
Auf einer Landwirtschaftlichen Produktions-Genossenschaft (LPG) im Thüringischen sticht ihm die Kantinen-Kellnerin Rosi ins Auge – und schon träumt sich Herb aufs Land als Familienvater mit einem Stall voller Kinder, und sich selbst ins Cockpit eines Agrarflugzeugs. Hannes steigt wenig später in seiner Achtung, als der von allen nur respektvoll „Chef“ genannte Dauer-Aktivist auf einer Zwischenstation die große Klappe des Hamburger Spediteurs E. Ullmann (Volkmar Kleinert), der nicht nur mit seiner PS-starken Mercedes-Zugmaschine protzt, sondern auch mit dem Einkommen eines selbständigen Spediteurs im westdeutschen Kapitalismus, auf unkonventionelle Weise kontert.
Wieder ‘mal auf der Landstraße gabeln sie die Zootechnikerin Johanna und ihre kleine Tochter Rieke auf, die den Urlaub in Berlin verbringen wollen und den Bus verpasst haben. Weil ihre Freunde verreist sind und weder im Hotel noch bei der Nachbarin Beutel ein Bett frei ist, rücken die beiden Männer im Wohnzimmer zusammen. Aus einer Nacht werden mehrere, zumal das Fernfahrer-Duo eh‘ kaum daheim ist. Hannes könnte sich eine Dauerlösung vorstellen, aber auch Herb hat ein Auge auf die unkomplizierte Johanna geworfen, die sich vom Vater ihres Kindes getrennt hat. Was zunehmend zu Eifersüchteleien führt, und bevor diese zu offenen Rivalitäten werden, gibt die Umworbene beiden einen Korb.
Wieder mit einer Ladung in der thüringischen LPG angekommen, werden sie Zeugen einer Hochzeit von Rosi mit dem Jugendsekretär. Beide geben sich ordentlich die Kante mit der Folge, dass Herb anderntags infolge eines Sekundenschlafs am Steuer den Skoda auf einer Talbrücke verreißt. „Zum Halsbrechen reichts“ stellt der schlagartig nüchterne Hannes fest: das Führerhaus ragt über das durchbrochene Brückengeländer hinaus. Darunter gähnt ein tiefer Abgrund, aber beide können sich mit dem Abschleppseil in Sicherheit bringen.
Wieder daheim findet Hannes in seiner Wohnung nur noch einen Abschiedsbrief vor: Johanna ist zu Riekes Vater zurückgekehrt. Schnitt. Auf dem Campus einer Universität treffen sich einige Zeit später Hannes und Herb, der sein Lehrerstudium wieder aufgenommen hat. Ersterer hat sein Tagebuch mitgebracht und liest daraus vor: Herb staunt über die geradezu romanhafte Sprache des „Chefs“ – und ärgert sich ein wenig darüber, dass er nicht selbst auf die Idee gekommen ist, das Erlebte zu Papier zu bringen.
Drei junge Leute „zwischen Selbstbefragung und Selbstdarstellung“ schreibt Klaus Wischnewski in „Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg“ (Potsdam/Berlin 1994): „Weite Straßen – stille Liebe“ gehöre zu einer Reihe „sympathischer, lebensbejahender, menschenfreundlicher Filme, die wegen ihrer undramatischen Dramaturgie noch heute viele Details und viel reales Lebensklima jener Jahre vermitteln.“ Gedreht in Totalvision ist das Road Movie am 18. Juni 1971 im Deutschen Fernsehfunk erstausgestrahlt und am 28. Januar 1973 in der ARD gezeigt worden. In dem inzwischen digitalisierten Film spielt die damals dreijährige Ulrike Plenzdorf, Tochter des Drehbuchautors Ulrich Plenzdorf, das Kind Rieke. Manfred Krug schlüpfte 1973 ein weiteres Mal in die Rolle eines Fernfahrers, in Roland Oehmes musikalischer Sommerkomödie „Wie füttert man einen Esel“.
Pitt Herrmann