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Mathias′ Eltern sind geschieden. Doch der Vater ist nicht aus der Welt. Mathias hat ihn schon oft besucht, und wenn die fremde Frau nicht dabei war, war es zwischen ihnen wie früher. Der Vater hat ihm auch die Geschichte von Ikarus erzählt und ihm versprochen, an seinem Geburtstag einen Rundflug über die Stadt mit ihm zu machen - denn Mathias will Flieger werden. Doch der Vater vergisst sein Versprechen. Mathias läuft enttäuscht von zuhause fort, sucht den Vater vergeblich in dessen Redaktion, in dessen Wohnung, wird von der Polizei aufgegriffen und vertraut sich in seiner Verlassenheit seinem besten Freund an. Durch all diese Enttäuschungen am neunten Geburtstag wird Mathias ein Stück erwachsen.
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Vor allem aber wünscht sich Mathias, dass seine geschiedenen Eltern endlich wieder zusammenkommen, eine Familie bilden. Denn seine Mutter, ebenso stark geforderte Brigadierin in einem großen Betrieb, hat einen Neuen, den er Onkel Jochen nennen soll. Was ihm aber nicht so recht über die Lippen will, denn dieser Herr Keller ist keine Alternative für den Papa, den Mathias häufiger heimlich besucht. Andererseits: statt des versprochenen Rundflugs über Berlin hat Papa eine Modelleisenbahn als Geburtstagsgeschenk mitgebracht. Und neuerdings trifft Mathias häufiger auf eine fremde Frau in der Wohnung seines Vaters, die ihn mit plumpen Annäherungsversuchen nervt...
„Ikarus“, Heiner Carows erster Film nach seinem Mega-Erfolg „Die Legende von Paul und Paula“, erzählt die Geschichte eines neunjährigen Scheidungskindes, ist aber alles andere als ein Kinderfilm. Es ist die Opfer-Perspektive des Jungen, die Carow in den Mittelpunkt stellt: beide Eltern stellen ihre berufliche Karriere über die familiären Pflichten, die Ehe wird geschieden, er wächst in erster Linie bei den Großeltern auf. Und das durchaus mit Glücksmomenten, die hauptsächlich mit seinem Rückzugsrefugium zusammenhängen, einem Bretterverschlag auf dem Dachboden: nicht ungefährlich, aber herrlich zum Spielen und zum Träumen, manchmal zusammen mit seinem besten Freund Kater.
Aber unter dem Strich ist „Ikarus“ ein Appell an die DDR-Gesellschaft, bei allen positiven Errungenschaften der Emanzipation – von der vergleichsweise zum Westen hohen Quote arbeitender Frauen bis hin zur Rundumversorgung des Staates mit Krippenplätzen – nicht die Kinder zu vergessen, die Opfer einer – vergleichsweise – sehr viel höheren Scheidungsrate gerade unter jungen Eheleuten. Was in der offiziösen Kritik sehr wohl registriert wurde. So kritisiert die (Ost-) „Berliner Zeitung“, dass die Eltern „keine Vitalität in ihrem legitimen Lebensanspruch gewinnen“.
„Wenn der Mensch spürt“, so Regisseur Carow, „dass seine Gefühle erwidert werden, wenn ihn Wärme umgibt, Liebe, Geborgenheit, wenn er Zuspruch findet, Verständnis, dann entfalten sich seine schöpferischen Fähigkeiten, dann wachsen ihm Flügel. Fehlt das alles, dann stürzt er ab.“ Heiner Carow zeichnet zudem, sozusagen zwischen den Zeilen, ein realistisches Bild des DDR-Alltags, das man so im Szenarium vergeblich sucht. Etwa das Schulsaufsatz-Zitat „Westautos fahren schneller. Aber sie haben den Kapitalismus“ oder den Ausspruch eines Klassenkameraden: „Meine Schwester ist verknallt in einen Griechen von drüben.“
Eine Szene, die zumindest beim westlichen Publikum blankes Entsetzen hervorruft, steht allerdings auch im „dialog“-Band des Henschelverlags: Ein Kamerad von Mathias muss sich vor versammelter Klasse samt Lehrerin und einem Volkspolizisten selbstbezichtigen. Eine solche Selbstanklagepraxis erinnert nicht nur an den mittelalterlichen Pranger, sondern in fataler Weise an faschistische Praktiken.
Die Versuche, einen neuen sozialistischen Menschen zu erziehen, sind mit solchen Maßnahmen zum Scheitern verurteilt. Was auch für andere gesellschaftlich relevante Bereiche gilt. Das beherzte Duo aus dem Schriftsteller Schlesinger und dem Filmemacher Carow nimmt kein Blatt vor den Mund – und legt Mathias’ Vater deutliche Worte in denselben. So wünscht sich der Redakteur des SED-Parteiorgans endlich ’mal „ein anständiges Interview“, und neben einem ansprechenden, modernen Layout „Artikel, die die Leute einfach zum Lesen zwingen“. Das haben die beim ND bis heute nicht geschafft...
Der „Jugendfilm“ startete erst am 3. Oktober 1975 in den DDR-Kinos und wurde am 12. April 1977 vom Fernsehen der DDR erstausgestrahlt. Bundesdeutscher Kinostart war der 16. März 1979.
Pitt Herrmann