Die Wahlverwandschaften

Frankreich BR Deutschland 1981/1982 TV-Spielfilm

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Heinz17herne
Heinz17herne
Den Romantitel „Wahlverwandtschaften“ wählte Goethe für sein 1809 erschienenes Alterswerk aus der Chemie, und seine Figuren erörtern den dazugehörenden Vorgang im vierten Kapitel des ersten Teils: Mit Wahlverwandtschaft bezeichnet man die Eigenschaft bestimmter chemischer Elemente, bei der Annäherung anderer Stoffe plötzlich ihre bestehenden Verbindungen zu lösen und sich mit den neu hinzugetretenen Elementen gleichsam „wahlverwandtschaftlich“ zu vereinigen.

Diesen Konflikt zwischen Naturgesetz und (menschlicher) Moral stellt Goethe am Beispiel einer zerrütteten Ehe modellhaft dar: Eduard Otto hat erst nach überstandener konventioneller Ehe seine Jugendliebe Charlotte heiraten können. Beide ziehen sich auf Eduards Landgut zurück, schmieden große Pläne zur Umgestaltung von Park, Garten und Baulichkeiten.

Ihre traute Zweisamkeit wird durch den in Not geratenen Hauptmann Otto, einen Freund Eduards, und Charlottes Nichte und Pflegetochter Ottilie gestört. Jetzt beginnt das Kräftespiel der Wahlverwandtschaften – mit einem sich dem Naturgesetz entsprechend ungezügelt hingebenden Paar Eduard-Ottilie und einem sich der sittlichen Ordnung der Gesellschaft verpflichtet fühlenden Paar Charlotte-Otto.

Und das Sittengesetz trägt einen zweifachen Sieg davon: Zunächst entschließt sich Charlotte, ihrem Geliebten Otto zu entsagen und verlangt Gleiches von ihrem Gatten. Daraufhin verlässt Eduard das Landgut und zieht in den Krieg. Währenddessen wird Charlotte Mutter eines Kindes, das Züge sowohl des Hauptmanns als auch Ottiliens aufweist – der lebende Beweis für den ja nur in der Einbildung existierenden doppelten Ehebruch. Jetzt scheint der Scheidung und der wahlverwandtschaftlichen Paarung über Kreuz nichts mehr im Weg zu stehen.

Doch Ottilie, die sich rührend um das Baby kümmert, verunglückt auf dem See des Landgutes und Charlottes Kind stirbt. Von Schuldgefühlen gepeinigt entsagt Ottilie – und stirbt entkräftet. Eduard folgt ihr alsbald und beide werden gemeinsam in der neuerrichteten Kapelle des Gutes aufgebahrt. Übrig geblieben sind die Sittenstrengen, sind Charlotte und Hauptmann Otto. Was bleibt ist nur der versöhnende Anblick der beiden wenigstens im Tod vereinten Liebenden...

Claude Chabrol hat in seinen Filmen wie „Zwei Freundinnen“, „Doktor Popoul“, „Blutige Hochzeit“ und „Violette Noziere“ stets das Recht des Individuums auf die Verwirklichung des eigenen Glücks verteidigt, und das mit aller Leidenschaft. Er hat sich stets gegen die Zwänge einer deformierten bourgeoisen Gesellschaft gewehrt, indem er diese schonungslos offenlegte. So war mehr zu erwarten als eine handwerklich grundsolide Literaturverfilmung, über die seine „Wahlverwandtschaften“ nicht herauskommt – und darin Regine und Siegfried Kühns Defa-Verfilmung von 1974 gleicht.

Wie im DDR-Kinofilm setzt die Handlung in dieser deutsch-französisch-tschechoslowakischen TV-Koproduktion nach der Hochzeit von Eduard und Charlotte ein. Deren Vorgeschichte, die konventionelle Ehe als Grund für den Versuch ihrer Überwindung auf Eduards Landgut, wird nicht erzählt. Damit wird Goethes Vorlage um eine entscheidende Dimension verkürzt. Im DDR-Film war das Ideologie: Siegfried Kühn wollte die beiden unverfälscht, ohne jede Nyancierung, als Angehörige einer überholten, bröckelnden Klasse darstellen. Aber Chabrol?

Er folgt Kühns Intention, das Geschehen von der Außenwelt zu isolieren, perfekter, was dem Franzosen durch eine distanzierende Kühle auch gelingt. So kann er auf symbolische Bildgehalte verzichten, auf diese Holzhammer-Zeichen der Defa-Ideologen etwa beim Feuerwerk und der Beerdigung von Eduard und Ottilie. Chabrol erweist sich hier als ein Meister der Distanz, der Kälte, des demonstrativen Unbeteiligtseins.

Helmut Griem verkörpert glaubhaft einen Mann in den besten Jahren, voller Leidenschaft und ungezügelter Lebenslust. Pascale Reynaud lässt nie vergessen, dass sie die Dienende, die letztlich Entsagende ist bei all' ihrer bedingungslos liebenden Hingabe zu Eduard. Michael Degen spielt einen eher verklemmten denn aus rationaler sittlicher Überzeugung handelnden Liebhaber – und damit eher eine Chabrol- denn eine Goethe-Figur. Stephane Audran schließlich gibt ganz die gelangweilte Gesellschaftsdame, die, durch die stille Zurückgezogenheit des Landlebens unbefriedigt, den Besuch des Hauptmanns und ihrer Nichte als Abwechslung außerordentlich begrüßt – und letztlich, auch hier setzt Chabrol ein Merkzeichen, enttäuscht ist über die Unentschlossenheit Ottos.

Chabrol nähert, und das auf sehr leisen Sohlen, die Goethesche Gesellschaft der bürgerlichen an und begründet das tragische Ende in der diffizilen Persönlichkeit Ottilies einerseits und in der Zaghaftigkeit und Gehemmtheit des Hauptmanns andererseits. So revidiert sich der erste Eindruck bei genauerem Hinsehen: Chabrols Film „Les affinités électives“ ist eine zeitgemäße Erweiterung des Stoffes, die Goethe jedoch nicht aus dem Blickfeld verliert.

Pitt Herrmann

Credits

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Dreharbeiten

    • 04.08.1981 - 01.09.1981: Schloß Krasnidvur, Umgebungen von Karlovy Vary und Prag
Länge:
118 min
Format:
16mm, 1:1,33
Bild/Ton:
Eastmancolor, Ton
Aufführung:

Uraufführung (DE): 04.04.1982, ARD

Titel

  • Originaltitel (FR) Les affinités électives
  • Originaltitel (DE) Die Wahlverwandschaften

Fassungen

Original

Länge:
118 min
Format:
16mm, 1:1,33
Bild/Ton:
Eastmancolor, Ton
Aufführung:

Uraufführung (DE): 04.04.1982, ARD