Der Kick

Deutschland 2005/2006 Dokumentarfilm

Inhalt

In der Nacht zum 13. Juli 2002 misshandeln das Brüderpaar Marco und Marcel Schönfeld sowie ihr Kumpel Sebastian Fink den 16-jährigen Marinus Schöberl. Die kahlrasierten Täter schlagen auf ihr schwächeres, zum Stottern neigendes Opfer aus der HipHopper-Szene über Stunden hinweg ein. Täter und Opfer kennen sich. Sie kommen alle aus Potzlow, einem brandenburgischen Dorf in der Uckermark, 60 Kilometer nördlich von Berlin. Wegen seiner unfassbaren Grausamkeit erregte der so genannte „Skinheadmord von Potzlow“ publizistische Beachtung weit über den Ort des Geschehens hinaus. 

In einem Schweinestall muss Marinus in die Kante eines Futtertrogs beißen. Er wird nach dem Vorbild des Bordsteinkicks aus dem Film "American History X" hingerichtet. Marcel springt auf den Hinterkopf seines Opfers. Die Täter vergraben die Leiche in der Jauchegrube. Erst vier Monate später, im November 2002, wird der skelettierte Leichnam von Marinus Schöberl gefunden.

Aus mehr als zwanzig Gesprächen mit zweien der Täter sowie mit Angehörigen des Opfers, mit Freunden und Nachbarn aus Potzlow hat Andres Veiel ein filmisches Protokoll für zwei Schauspieler entwickelt. Wie bei der vorangegangenen Bühneninszenierung des Textes am Maxim-Gorki-Theater Berlin haben bei dessen Adaption Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch sämtliche Sprechrollen übernommen.

Quelle: 56. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)

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Heinz17herne
Heinz17herne
Am 13. Juli 2002 haben in Potzlow/Uckermark drei Freunde, der 23-jährige Marco Schönfeld, sein 17-jähriger Bruder Marcel und der gleichaltrige Sebastian Fink, den 16-jährigen Marinus Schöberl stundenlang bestialisch gequält und gefoltert, bis sie ihm den Schädel eingetreten und seine Leiche in der Jauchegrube eines aufgelassenen Schweinestalls vergraben haben. Die Leiche wurde erst ein halbes Jahr später entdeckt. Die zum Dunstkreis der Neonazis gehörenden Täter wurden am 24. Oktober 2003 vom Landgericht Neuruppin verurteilt: Marcel Schönfeld erhielt acht Jahre und sechs Monate, Marco Schönfeld 15 Jahre.

Der Psychologe und Dokumentarfilmer Andres Veiel und die Dramaturgin am Berliner Maxim Gorki Theater, Gesine Schmidt, haben für ihr dokumentarisches Zwei-Personen-Stück „Der Kick“ mehr als ein halbes Jahr vor Ort im Norden Brandenburgs recherchiert. Immer wieder sind sie nach Polzow gefahren, haben mit Angehörigen des Opfers wie der Täter gesprochen, mit Freunden, Ausbildern, Polizisten, dem Pfarrer und den Bürgermeistern. Und sie haben die Schönfeld-Brüder im Gefängnis befragt.

Andres Veiel im Piffl-Presseheft: „Wir konnten über Monate Vertrauen bei den Beteiligten aufbauen. Dabei machten wir die Erfahrung, dass es ein Bedürfnis gibt, zu sprechen. Es existiert diese Ambivalenz zwischen dem Schweigen, dem Verhüllen, und dem Wunsch, dann doch darüber zu reden. Das letztere setzt sich dann irgendwann durch.“

Das „filmische Protokoll für zwei Schauspieler“ geht der Frage nach, wie es soweit kommen kann, dass drei junge Menschen einen Freund brutal umbringen. Es zielt auf Hintergründe und Entstehung einer zur „Alltagskultur“ verkommenen Jugendkriminalität und auf die Aufdeckung eines wenig reflektierten Rechtsextremismus, der das Resultat sozialer und familiärer Verwahrlosung und gesellschaftlicher Frustration einer Generation zu sein scheint. „Seelisch-moralische Versteppung“ nennt der 1959 in Stuttgart geborene Regisseur Andres Veiel das, was er in der Uckermark vorfand: Kinder und Erwachsene leben in getrennten Welten, in denen niemand Regeln setzt oder Normen vermittelt.

„Der Kick“ sucht Antworten, lässt junge Menschen aus dem Umfeld der Täter zu Wort kommen, aber auch Dorfbewohner und den Staatsanwalt. Und die Widersprüche bleiben, denn ein wirkliches Motiv für die Hinrichtung quasi unter den Augen eines ganzen Dorfes gibt es nicht. Alkohol ist im Spiel, Drogen, einschlägige Videofilme, eine über Jahre aufgebaute Gewaltbereitschaft, vor allem aber Zufälligkeit. Und die Erwachsenen greifen weder gleich noch später ein. Was uns mit der ungemütlichen Frage konfrontiert, ob Potzlow nicht doch eher zufällig in den neuen Bundesländern liegt.

Andres Veiels Uraufführung 2005 am Maxim Gorki Theater Berlin, eine vielbeachtete Koproduktion mit dem Theater Basel, lieferte die Vorlage für diesen ohne Requisiten und wechselnde Kostüme im Grusel-Ambiente des stets abgedunkelten Gewerbehofes der alten Königstadt-Brauerei des Berliner Bezirks Prenzlauer Berg gedrehten Film, der noch auf Bildschirm-Größe - und schon gar auf der Leinwand - die Nackenhaare in Bewegung setzt. Weil sich ständig der konkret nicht bekannte, also quasi fiktive Ort des grausamen Geschehens, der Potzlower Schweinestall, wie eine Folie über das Bild vom leeren, nackten Berliner Gewerbehof legt.

Nur zwei Schauspieler sind zu sehen, in beinahe zwanzig Rollen. Besser gesagt: Ihre Stimmen sind zu hören und damit die ihrer Rollen. Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch spielen keine Identitäten, stellen keine Szenen nach, noch nicht einmal Verhörsituationen. Sondern sprechen, ganz sachlich, ohne eigene Emotionen auszudrücken, ausschließlich authentisches Material. Und zwar, ganz entgegen der vom Theater erwarteten, ja geforderten dialogischen Situation, stets monologisch. Aber unchronologisch und, was die Personen betrifft, die sie zu Wort kommen lassen, in bunter Reihe ohne konkrete Zuordnung, auch geschlechtsspezifisch.

Dabei nimmt die Kamera nur ihre Gesichter in den Fokus: Susanne-Marie Wrage („Das Verlangen“, „Nachbeben“) studierte an der Spree Schauspiel und szenisches Schreiben und arbeitet nach Bühnen-Engagements in Berlin, Zürich und Basel inzwischen als freie Schauspielerin sowie Theater- und Filmregisseurin. Markus Lerch („Nette Leute“), Absolvent der Westfälischen Schauspielschule Bochum, stand dort sowohl im Schauspielhaus als auch im Prinz-Regent-Theater auf den Brettern ebenso wie in Gelsenkirchen und Wuppertal.

Andres Veiel: „Die Stimmen der Täter, der Opfer und des Dorfes verschmelzen in einem oder zwei Körpern. Das ist für mich filmisches Neuland gewesen. Dass diese radikale Form im Film so gut funktioniert, hat mich selbst überrascht. Ich glaube, dass das mit der ’authentischen Kraft’ des Films zu tun hat. Der Film gibt mir einen Blick vor, ich kann schwerer entkommen. Ich muss im wörtlichen Sinne näher hinschauen. Ich glaube, dass der Film in diesem Sinne das stärkere Medium ist.“

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Dreharbeiten

    • Gewerbehof in der alten Königstadt, Berlin
Länge:
2332 m, 85 min
Format:
35mm, 1:1,85
Bild/Ton:
Farbe, Dolby SR
Prüfung/Zensur:

FSK-Prüfung: 10.07.2006, 106772, ab 12 Jahre / feiertagsfrei

Aufführung:

Uraufführung: 12.02.2006, Berlin, IFF - Panorama Dokumente;
Kinostart (DE): 21.09.2006

Titel

  • Originaltitel (DE) Der Kick

Fassungen

Original

Länge:
2332 m, 85 min
Format:
35mm, 1:1,85
Bild/Ton:
Farbe, Dolby SR
Prüfung/Zensur:

FSK-Prüfung: 10.07.2006, 106772, ab 12 Jahre / feiertagsfrei

Aufführung:

Uraufführung: 12.02.2006, Berlin, IFF - Panorama Dokumente;
Kinostart (DE): 21.09.2006

Auszeichnungen

Jury der evangelischen Filmarbeit 2007
  • Film des Jahres 2006
Defa-Stiftung 2006
  • Preis zur Förderung der deutschen Filmkunst
Visions du Réel Nyon 2006
  • Hauptpreis