Inhalt
Berlin in den 1920er Jahren: Die Hyperinflation hat das Zirkusartistentrio, bestehend aus dem US-Amerikaner und Trapezartist Abel Rosenberg, seinem Bruder Max und dessen Frau Manuela arbeitslos gemacht. Als sich der depressive Max das Leben nimmt und Abel in den Verdacht gerät, an einer mysteriösen Mordserie beteiligt zu sein, finden Abel und Manuela Obhut bei einem früheren Bekannten. Der Wissenschaftler Dr. Vergérus bietet ihnen neben einer Unterkunft auch Arbeit auf dem Gelände seiner Klinik an. Bald findet Abel heraus, dass Dr. Vergérus hinter den Morden steckt und mit durch die Massenarbeitslosigkeit bedingten hungernden Menschen medizinische Experimente durchführt.
Als die Polizei schließlich den dubiosen Machenschaften des Arztes auf die Schliche kommt, ist Manuela bereits wahnsinnig geworden. Bevor er verhaftet werden kann, begeht Dr. Vergérus mit einer Zyankalikapsel Selbstmord. Abel, der in die Schweiz ausgewiesen werden soll, versucht seine eigene Haut zu retten und taucht unter.
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Gleich zu Beginn erfährt Abel, dass sich sein Bruder und Trapez-Partner umgebracht hat. Er selbst wird, zumal als Ausländer und Angehöriger des fahrenden Zirkus-Völkchens, der Tat verdächtigt. Auf Geheiß der Polizei muss er den merkwürdig verstümmelten Toten im Leichenschauhaus identifizieren. Dennoch bleiben die beiden in Berlin und erleben, so gebannt wie zunehmend eingeschüchtert, Mitte der 1920er Jahre eine völlig chaotische Stadt, in der nur der harte US-Dollar und die nicht minder harten Schlägertrupps der extremen Rechten das (Nacht-) Leben beherrschen.
Abel versucht mit Alkohol und durch sporadische Geborgenheitsgesten bei seiner Schwägerin mit den verwirrenden Bildern auf der Straße und in seinem Kopf fertig zu werden, während Manuela als fürchterlich rothaarige und noch fürchterlicher dilettierende Tingeltangelsängerin in einem drittklassigen Kabarett unterkommt.
„Jeder kann sehen, was die Zukunft bringt. Es ist wie ein Schlangenei. Durch die dünnen Häute erblickt man bereits das vollkommen ausgebildete Reptil.“ Diese Schlüsselsätze spricht der Arzt Dr. Vergerus, eine obskure Gestalt, die, halb Caligari, halb Mabuse, dem expressionistischen deutschen Stummfilm entsprungen zu sein scheint. Er führt Experimente an Menschen durch, um deren Leidensfähigkeit zu ergründen.
Vergerus bekommt die beiden Protagonisten in seine – zunächst glücklicherweise nur räumliche – Gewalt: Abel und seine Schwägerin ziehen aus einer akuten Notlage heraus, ihre hinterhältige Pensionswirtin Holle hat sie vor die Tür gesetzt, in eine der orwellschen Versuchs- und Experimentierwohnungen von Dr. Vergerus.
Abel kommt als Bibliothekar im kafkaesken Archiv der obskuren St. Anna-Klinik unter und beide schwimmen nun scheinbar unaufhaltsam in einem Strom mit. Einzig der Polizei-Inspektor Bauer wahrt entsprechend der preußischen Beamtentradition gewisse Formen im Chaos – und macht dem Vergerus-Spuk ein Ende. Letzterer nimmt sich wie später der sadistische NS-Arzt Dr. Mengele durch eine Zyankali-Kapsel das Leben.
Ingmar Bergmans „Das Schlangenei“, sein erster Film außerhalb Schwedens, spielt in einer völligen Kunstwelt. Ob Szenen der Bergman(n)straße, ob der falscher Glitzer einer drittklassigen Nachtbar oder die Ausstattung der perversen Strichmädchen – alles ist eingehüllt in ein grelles, unnatürliches Licht, das diese Welt künstlich und fremd erscheinen lässt.
Und unglaubwürdig. Denn auch wenn ein Großteil der Zuschauer die Zeit der Weimarer Republik und der Nazi-Diktatur nicht selbst erleben musste, ist allen klar, dass 1923, im Jahr des an der Münchner Feldherrnhalle gescheiterten Hitler-Putsches, noch keine braunen Kolonnen im LKW durch Berlin gefahren sind oder NSDAP-Stoßtrupps jüdische Geschäfte und Nachtclubs ausgeräumt haben. Freilich: Dass Bergmans „Schlangenei“ solche Patzer aufweist, ist nicht das Problem, sondern dass der Film sich in der Außenwirkung den Anschein historischer Korrektheit gibt.
So schäumte Ende Oktober 1977, als der zweistündige Film in die deutschen Kinos kam, nicht nur die Kritik, auch das Publikum zeigte heftige Reaktionen gegen die von Bergman nun wirklich nicht zu erwartenden reißerischen Gags und billigen Effekte. Sogar das beinahe rein studentische Auditorium im damals tagelang ausverkauften „Capitol“ an der Bochumer Kortumstraße (dem heutigen ganz und gar unakademischen Bermuda-Dreieck) hatte an den völlig zu Recht weltberühmten schwedischen Regisseur Maßstäbe angesetzt, die dieser nicht bereit war zu erfüllen: „Ich hatte nie die Absicht, einen Dokumentarfilm über das Berlin von 1923 zu drehen. Ich verwende nur die Situation, den Geruch einer Katastrophe.“
Heute, Jahrzehnte und zahllose Bergman-Retrospektiven auf der Leinwand und besonders auf dem Bildschirm später, erkennt man auch im „Schlangenei“ in ihrer abgrundtiefen Psychologie typische Bergman-Szenen und –Situationen wieder. Zu ihnen gehört die, in der Abel, angesteckt vom Sog brauner Gewalt auf den Straßen der späteren Reichshauptstadt, einen Pflasterstein in das Schaufenster eines Handarbeitsgeschäftes wirft, das seinen eigenen Namen trägt - Rosenberg. Als der schon recht betagte jüdische Kaufmann auf den ob seiner Tat selbst verdutzten Frevler einstürmt und ihn zusammen mit seiner Gattin zu Boden schlägt, umarmt und küsst Abel in einer plötzlichen Gefühlsaufwallung die Frau, die ihn soeben noch angespuckt hat.
Pitt Herrmann