Winterreise

Deutschland Österreich 2005/2006 Spielfilm

Winterreise

Der neue Film des Tandems Steinbichler-Bierbichler



Heike-Melba Fendel, epd Film, Nr.12, 2006

Gute Geschichten beginnen im Aberwitz. Was, wenn am anderen Ende der Telefonsexhotline eine schöne junge Frau wäre, wenn die Geschichte des um Geld bittenden Junkies stimmen würde, oder eine der vielen Spam-Mails tatsächlich das Geld brächte, das sie verheißt. Unfug, alles Unfug, alles Abzocke, alles Blödsinn, spätkapitalistische Auswüchse. Einer, der unter diesen Auswüchsen leidet, ist Franz Brenninger, ein in die Jahre und in die Pleite gekommener bayerischer Mittelständler in der Metallbranche. Die guten Zeiten, die er lange hatte, sie sind noch sichtbar: in dem Rest Hochachtung, den der Sachbearbeiter bei der Sparkasse ihm erweist, der kichernden Euphorie der jungen Prostituierten im örtlichen Bordell, in dem modernen – die dörfliche Ästhetik übertrumpfenden – Haus, einem architektonischen Traum aus Glas und Beton.

Doch die bürgerliche Fassade, die hat Brenninger eigenhändig abgerissen; in den Räumen dahinter hausen Unbehagen, Angst, Zorn und Zweifel. "Ich brauch Luft!", schreit er und reißt die gläserne Front des Hauses auf, rennt in Unterwäsche in den Schnee. Ja, der Lack ist ab und die Freiheit beginnt. Die Freiheit, einen Mann und seine Geschichte zu erzählen, wie man es im deutschen Kino noch nicht gesehen hat. Wie Brenninger pfeift auch der Film auf alles, was "man" tut, und ersetzt es mit dem hellen Wahn eines Mannes, wund und krank an der Seele, der sich gegen eine verkehrte Welt wehrt.

Eine Welt, in der Zulieferer ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen, weil "das ist jetzt so in der Ellbogengesellschaft", in der die duldsame Frau – Hanna Schygulla – erblindet als die ihr eigene, sanfte Form der Verweigerung, in der die Kinder sich bloß sittsamer ins Scheitern fügen. Nur Franz Brenninger, der fügt sich in gar nichts, der pöbelt und schimpft sich durchs kleinbürgerliche Einerlei, der quält seine Umwelt mit der Wut eines verwundeten Tieres. Es gibt auch viel Sanftheit in diesem ruppigen Drama: das weiche Licht der Lampen und Leuchtschriften, das Licht, das Sibel Kekillis reinweißes Gesicht ins Dunkel von Franzens Seele bringt, die Zärtlichkeit, mit der er auf seine betrogene Frau blickt. Eine große Kinofigur ist dieser Brenninger, dem Josef Bierbichler seine ganze Kraft schenkt, und es braucht viel Kraft, nichts und niemandem gefallen zu wollen, dem Scheitern, der Lächerlichkeit auf restlos sich selbst beschämende Weise Ausdruck zu geben. Und wiewohl Bierbichler diese "Winterreise" vom ersten bis zum letzten Bild dominiert, braucht er doch Hanna und Sibel. Er braucht auch die atemlos schönen Bilder von Kamerafrau Bella Halben, die ohren- und sinnebetäubenden Klänge der Rockmusik wie die Lieder Schuberts und die Geschichte von Martin Rauhaus, die ihn ans Ende der Welt führt. Franz Brenninger ist der Scheffel, unter den sie alle ihr Licht stellen. So entsteht ein, bei aller Wucht der Einzelleistungen, vollkommen uneitler Film.

Regisseur Hans Steinbichler, das weiß man seit seinem Erstling "Hierankl", stellt Extremes nicht aus, sondern macht es zum Ausgangspunkt seines Blickes auf eine Welt, in der alles mit allem verbunden ist: die Seelenlandschaften mit den Bildern verschneiter Wälder wie Bildern des Himmels über Afrika; die Architektur einer Biografie mit der von deutschen Dörfern und kenianischen Slums; das Drama eines alternden Mannes mit dem einer hilflosen Gesellschaft; die deutsche Romantik mit dem Deutschland von Hartz IV. An dem Punkt, wo sich all diese Linien kreuzen, dort wütet Franz Brenninger ohne Rücksicht auf Verluste, denn er hat den größten Verlust zu beklagen: sich selbst. Nur deshalb lässt er sich auf den Aberwitz ein, einen Luftpostbrief aus Afrika, der 750.000 Dollar verheißt, ernst zu nehmen. Sein Verhalten ist so unlogisch wie dessen Folgen, aber mit Logik kommt man weder dem Leben noch guten Filmen bei.

Franz Brenninger ist ein Verschwundener, er ist ein Vater, der sich davongemacht hat, den es zu rekonstruieren gilt, allerdings nicht im milden Licht der Erinnerung der Nachgeborenen, sondern in seinem Sinne. "Für unsere Väter" – diese Widmung haben Produzent, Regisseur und Autor diesem Film vorangestellt. Franz Brenninger kommentiert das auf seine Weise, als seine Frau ihm sagt, die Kinder wollten ihn sehen: "Die Kinder sind Scheiße."

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