Das XI. Internationale Festival des deutschen Film-Erbes Cinefest, das von 15. bis 23. November in Hamburg stattfindet, sowie der 27. Internationale Filmhistorische Kongress, der von 20. bis 22. November stattfindet, stellen in diesem Jahr den Dokumentarfilm unter dem Motto "Gegen? Öffentlichkeit! Neue Wege des Dokumentarischen" in den Mittelpunkt.
Bei den cine-Foren, die heute und morgen stattfinden, widmen sich Gespräche mit Fachleuten und Interessierten den Themen "abgedreht, angelaufen, ausgestellt – Filmvermittlung durch Ausstellungen" und "Schnitt, Montage, Co-Regie – Kreative Beteiligung des Cutters beim Dokumentarfilm".
Zu den prominenten Gästen des diesjährigen Cinefests zählen beispielsweise Klaus Wildenhahn, Wolfgang Thaler, Volker Koepp, Gert Conradt, Lutz Dammbeck, Andres Veiel und der englische Filmhistoriker Kevin Brownlow.
Inhaltlich beraten wurden die Veranstalter Cinegraph (Hamburg) und Bundesarchiv (Berlin) vom DFG-Projekt zur Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland nach 1945, das an den Universitäten Hamburg und Potsdam sowie dem Stuttgarter Haus des Dokumentarfilms angesiedelt und Mitveranstalter ist.
Die Studentenrevolte 1968 veränderte die bundesdeutsche Gesellschaft tiefgreifend. Plötzlich wurde der konservative Obrigkeitsstaat grundlegend in Frage gestellt. Die 1960er Jahre brachten beiden deutschen Staaten eine Infragestellung ihres politischen Systems. Es entstanden Protestbewegungen, die in ihrer Aufmüpfigkeit das gesellschaftliche Klima bestimmten. Nach einer Entpolitisierung der Gesellschaft ist seit der Jahrtausendwende das Interesse – insbesondere von Jugendlichen – an Alternativen zum kapitalistischen System wieder gewachsen und Proteste gegen die totale Unterwerfung unter die Ökonomie mehren sich.
Diese gesellschaftlichen Umbrüche veränderten auch den Dokumentarfilm inhaltlich, technisch, ästhetisch, konzeptionell. Wurde er vor 1960 überwiegend mit schweren 35mm-Kameras gedreht, revolutionierten handliche 16mm-Kameras mit synchronem Ton die Näherung an die Wirklichkeit. Jede Inszenierung war verpönt. Man behauptete, die Realität wirklich zu zeigen. Dabei übersah man geflissentlich, dass der Dokumentarfilm ein künstlerisch gestaltetes Produkt blieb. Er lebt von seinem Autor, der Wahl des Sujets und der Montage, bei der aus vielen Stunden Filmmaterial der Dokumentarfilm herausdestilliert wird.
In den 1970er Jahren entstanden Medienkooperativen und Videogruppen, die dezidiert das Ziel hatten, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Denn über die Ziele der Protestbewegungen berichteten bürgerliche Medien nicht oder nur verzerrt. Nach Zeitungsprojekten entstanden zunächst im universitären Umfeld Radio- und Filmgruppen. Sie nutzten Videokameras, mit denen ganz anders gedreht werden konnte. Um ihre Produktionen der alternativen Öffentlichkeit zeigen zu können, wurden neue Vertriebsstrukturen geschaffen. Die Videogruppen verstanden sich als Teil der Bewegung und hatten überhaupt nicht den Anspruch, objektiv über Hausbesetzungen, Proteste gegen Atomkraftwerke oder die Friedensbewegung zu berichten.
Jeder soll Filme machen können
Auf dem Kongress liefert das 1. Panel theoretische Grundlagen, denn die Videobewegung bezog sich auf Vorläufer der Weimarer Republik. Bert Brecht forderte in seiner Radiotheorie die Partizipation der Hörer am Programm: "Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln." Einflussreich waren sowjetische Filmtheoretiker wie Dziga Vertov oder Sergej Tretâkov, die eine kollektive Produktion ohne Hierarchie forderten. Die Montage sollte Zusammenhänge aufdecken. 1964 veröffentlichte Hans Magnus Enzensberger seine kritische Analyse der "Bewußtseins-Industrie". Oskar Negt und Alexander Kluge stellten 1972 in "Öffentlichkeit und Erfahrung" der bürgerlichen eine proletarische Öffentlichkeit gegenüber. Auf der Duisburger Filmwoche stritten Klaus Kreimeier und Klaus Wildenhahn, inwieweit man im Dokumentarfilm inszenieren darf.
"Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv"
Der deutsche Dokumentarfilm wurde stark beeinflusst von Debatten und Konzepten aus dem Ausland. Im 2. Panel soll dies am Beispiel von England und Frankreich diskutiert werden. Die Internationalität war ein Kennzeichen der Videogruppen und Medienzentren, deren Geschichte im 3. Panel nach einem Überblick der technischen Rahmenbedingungen im Detail vorgestellt werden sollen. Viele ihrer Filme begleiteten die Protestbewegungen und nahmen eindeutig Stellung. Dieser partizipative Ansatz zeichnet bis heute die alternative Medienarbeit aus. Vor allem das Internet ermöglicht nun eine globale Vernetzung und eine Aktivierung vor Ort.
Freund und Feind Fernsehen
Die Gegenöffentlichkeit schuf sich schon damals eigene Strukturen, wie im 4. Panel am Beispiel von Hamburg gezeigt werden soll. Selbst wenn das Selbstverständnis der Gruppen sich als Gegenöffentlichkeit definierte, kam es punktuell zur Zusammenarbeit mit Redaktionen öffentlich-rechtlicher Sender. Dies Verhältnis von Distanz und Nähe soll am Beispiel des NDR vorgestellt werden.
"Wir sind das Volk"
In der DDR gab es keinen Spielraum für Protestbewegungen. Und doch kann man sich wundern, wie offen einige der Protagonistinnen und Protagonisten in den Dokumentarfilmen der DEFA über die wirklichen Verhältnisse im realen Sozialismus sprechen. Diese Aussagen durchliefen ein ausgeklügeltes System der Kontrolle. Das 5. Panel diskutiert die Sonderstellung der Amateurfilmstudios, die gewisse Freiheiten genossen. Dass in der DDR ein kritisches Potential existierte, bewiesen die zahlreichen Dokumentarfilme zur Wende. Ein Seismograph der Befindlichkeiten des Volkes.
"Mein Bauch gehört mir"
Auch im Westen gab es gesellschaftliche Veränderungen. Exemplarisch wird dies im 6. Panel an der Frauenbewegung aufgezeigt, die zunächst gegen den § 218 kämpfte, der Abtreibung unter Strafe stellte. Daraus erwuchs ein neues Selbstbewusstsein, das in Dokumentarfilmen von Frauen deutlich wird; sie boten Alternativen zu einer von Männern dominierten Gesellschaft. Dies Vorbild ermutigte Schwule und Lesben, für ihre Interessen und gesellschaftliche Anerkennung zu kämpfen. Sie waren erfolgreich und sind heute ebenso wie die damaligen Protestbewegungen ein selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft.
Quelle und vollständiges Programm: www.cinefest.de