Inner City Blues. Multi-ethnische Bewegungen im urbanen Raum
Nicht nur das Krisengebiet Ostdeutschland, sondern auch das Krisengebiet Großstadt generiert im jüngeren deutschen Film quasi-dokumentarische Werke mit melodramatischem Mehrwert. Fatih Akins Triumph mit dem Goldenen Bären für "Gegen die Wand" auf der Berlinale 2004 lenkte die Aufmerksamkeit im großen Stil auf ein Thema, das schon ein paar Jahre länger im deutschen Film virulent ist: das multi-ethnische Geschehen in den urbanen Zentren.
Zuvor kamen Einwandererkinder der zweiten oder dritten Generation überwiegend als exotisches Ornament in Großstadtmärchen vor oder sie wurden denunziatorisch als Problempersonal funktionalisiert. Mit Akins "Kurz und Schmerzlos" und Yüksel Yavuz’ "Aprilkinder" änderte sich das 1998: Die Migrantenfiguren in den beiden Hamburger Produktionen waren einerseits Repräsentanten ihrer ethnisch geprägten Community, darüber hinaus aber auch komplexe Charaktere, die die interkulturelle Gemengelage innerhalb der Ballungszentren sinnlich erfahrbar machten. Die narrativen Strategien der beiden Regisseure waren dabei so unterschiedlich wie die Mikrokosmen, die sie im Einzelnen beleuchteten: Überhöhte Akin die Selbstfindungsversuche seiner türkischen, griechischen und serbischen Helden aus Hamburg-Altona in "Kurz und schmerzlos" zum Gangstermelodram, so protokollierte Yavuz in "Aprilkinder" kühl, wie zwei kurdische Brüder die Widersprüche ihres Alltags aufzulösen versuchen.
Inzwischen hat sich eine ganze Reihe türkischstämmiger Filmschaffender etabliert; Thomas Arslan, Züli Aladag und Ayse Polat sind nur einige von ihnen. Den radikalsten Beitrag zum multi-ethnischen Lebensraum Großstadt aber lieferte Till Hastreiter mit seinem vielstimmigen Street-Opus "Status Yo!" (2004.), in dem er türkisch-, chinesisch- und kroatischstämmige B-Boys aus Berlin beim Ringen um Authentizität und Anerkennung porträtiert. Hastreiter liefert einen aufwühlenden "Inner City Blues", dessen rauhes Bildmaterial er im Remix-Verfahren ordnet. So durchdringt der HipHop die Ästhetik des Films bis in den letzten Winkel und macht ihn für die Formatauswertungen der Jugendkultur durch MTV unzugänglich.
Quelle: Christian Buß, Birgit Glombitza (Red.): "Deutschland, revisited". (Katalog zur gleichnamigen Retrospektive im Kommunalen Kino Metropolis Mai - Juli 2004). Hamburg: Kinemathek Hamburg e.V., 2004.Für die Reihe "Deutschland, revisited", die von Mai bis Juli 2004 im Hamburger Metropolis- Kino lief, stellten die Journalisten Birgit Glombitza und Christian Buß 22 deutsche Kino- und Fernsehwerke aus den letzten fünf Jahren zusammen. Der Text stammt aus dem dazugehörigen Katalog. Er soll als Navigationshilfe durch eine Filmlandschaft dienen, die stilistisch und inhaltlich oft unübersichtlich ist, deren unterschiedliche Akteure aber allesamt ein untrügliches Gespür für die Phänomene der Gegenwart beweisen.