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Filmbiografie des österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig (*1881), die sich vor allem mit der Zeit ab 1934 befasst. Zweig befindet sich auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, als er durch die Machtübernahme der Nazis ins Exil getrieben wird. Aber weder in Rio de Janeiro oder Buenos Aires noch in New York oder Petrópolis kommt er zur Ruhe. So gastfreundlich man ihn an seinen Zufluchtsorten aufnimmt und so sehr ihn die tropische Natur Brasiliens betört, so wenig findet er in der Fremde Frieden und eine neue Heimat. Er vermisst Europa, dessen Zerstörung durch Krieg er gleichwohl vorausahnt.
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Hier entstehen seine aus heutiger Sicht wohl bedeutendsten Werke: Stefan Zweig überarbeitet sein Opus Magnum „Die Welt von Gestern“, sein über eine Biographie weit hinausreichender Abgesang auf den Vielvölkerstaat Habsburg und das „alte“ Europa, und schreibt seine „Schachnovelle“. Und hier nimmt er sich am 22. Februar 1942 zusammen mit seiner Frau Lotte das Leben. Ernst Feder, als Ressortleiter des „Berliner Tageblatts“ von den Nazis entlassen und ebenfalls zur Emigration gezwungen, wird in Petrópolis sein engster Mitstreiter und Freund. Feder verliest den so überraschten wie entsetzten Anwesenden in der Casa Zweig den auf Deutsch verfassten Abschiedsbrief des bekennenden Altösterreichers: „(...) Ich grüße alle meine Freunde! Mögen Sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.“
Maria Schrader hat sich bewusst auf die letzten Lebensjahre Stefan Zweigs konzentriert. Nach akribischer Recherche liefert sie zusammen mit dem Dokumentaristen Wolfgang Thaler, der den Stil der Filme Ulrich Seidls wesentlich prägte, keine schlüssige Erklärung für den Selbstmord eines hochgeachteten, politisch und finanziell unabhängigen Intellektuellen. Aber doch Hinweise: Stefan Zweig hat sich vor keinen noch so moralisch gerechtfertigten politischen Karren spannen lassen. Bis zuletzt lehnte er es ab, sich auf das sprachliche – und noch gar geistige - Niveau radikaler Strömungen von links bis rechts zuzubewegen, nur um mehr Aufmerksamkeit zu erheischen. Was ihn in der Emigrantenszene zunehmend isolierte zumal nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
„Vor der Morgenröte“ präsentiert sich auf der einen Seite wie ein opulenter Ausstattungsstreifen und auf der anderen Seite wie ein leiser, nicht distanzierter, aber sich jeglichen Kommentars enthaltender Dokumentarfilm. Was gleich im Prolog deutlich wird: Brasiliens Außenminister Macedo Soarez (Virgilio Castelo) empfängt im August 1936 Stefan Zweig (überragend in einer völlig neuen Rolle als Charakterdarsteller: der österreichische Kabarettist Josef Hader) im feudalen Jockey Club Rios wie einen Staatsmann. Zweig zeigt sich schon nach wenigen Tagen von der brasilianischen Gesellschaftsform überwältigt, in der ein friedliches Zusammenleben verschiedenster Rassen und Hautfarben möglich ist - beispielgebend für den Rest der Welt und besonders für das nationalistische Europa.
Schriftsteller aus 50 Ländern sind einen Monat später zum P.E.N.-Kongress in Rio zusammengekommen. Während sein weniger prominenter Kollege Emil Ludwig eine umjubelte Wutrede auf die Nazis hält und der Belgier Luis Pierard (Vincent Nemeth) die Namen verfolgter und exilierter deutschsprachiger Schriftsteller verliest, vermag sich Zweig weder polemischen Worten noch pathetischen Gesten anzuschließen. Und fühlt sich rasch im Abseits. Auch als die Sprache auf Franz Werfel und seinen historischen Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ kommt, in dem er der Welt erstmals den Genozid der muslimischen Türken an den christlichen Armeniern vor Augen führt. Im Übrigen nur einer von zahlreichen hochaktuellen Bezügen ihres Films, mit denen Maria Schrader aber nicht hausieren geht.
Bahia, im Januar 1941. Stefan Zweig und Lotte sind seit Monaten auf Vortragsreisen durch Südamerika. Er schreibt, auch als Dank an seine Gastgeber, an einem Buch über Brasilien und informiert sich im Norden des Landes über den Zuckerrohranbau. In New York, wo Eisblumen am Fenster vom tiefsten Winter seit vielen Jahren zeugen, trifft er seine geschiedene Frau Friderike wieder, mit der er 20 Jahre zusammengelebt hat. Sie konnte, nicht zuletzt durch seine Vermittlung, mit ihren beiden Töchtern in die USA einreisen, lebt nun in der Wohnung einer Freundin und übergibt Stefan Zweig einen Stapel Bittbriefe aus Europa. Der fühlt sich überfordert: „Ein halber Kontinent würde auf einen anderen flüchten, wenn er könnte“. Und wir werden erinnert an die aktuellen Bilder vom „Mare nostrum“.
Zehn Monate später haben Stefan und Lotte Zweig ein Haus in Petrópolis bezogen. „Die Welt von Gestern“ ist abgeschlossen, das Brasilienbuch zeitgleich in fünf Sprachen erschienen und ein großer Erfolg. Am Morgen seines sechzigsten Geburtstags trifft Stefan Zweig überraschend einen alten Bekannten auf der Straße: Ernst Feder (Matthias Brandt) ist mit seiner Frau Erna (Naomi Krauss) ebenfalls in Petrópolis untergekommen. Er verspricht Zweig, mit ihm Schach zu spielen - als Recherche für eine geplante Novelle. Ein Tag ausgelassener Freude wird durch den brasilianischen Verleger Abrahão Koogan (Abraham Belaga) und dessen Gattin Paulina (Irina Potapenko) mit einem besonderen Geschenk gekrönt: Plucky, ein Prachtexemplar von Drahthaar-Foxterrier. Beinahe unvermittelt sehen wir mit Wolfgang Thalers Kamera voyeurhaft auf den Spiegel eines Kleiderschrankes. Kurz wird das bereits vom Tod erstarrte Ehepaar Zweig sichtbar, wie es in inniger Umarmung auf dem Bett liegt...
„Vor der Morgenröte – Stefan Zweig in Amerika“, uraufgeführt am 30. Mai 2016 in Berlin und am 21. November 2018 von Arte erstausgestrahlt, ist eine großartige Hommage an Stefan Zweig. Die freilich nur seine stark schwindende Fangemeinde spannend findet. Andererseits: Wenn durch den Film wenigstens einige Jüngere für die „Welt von Gestern“-Lektüre gewonnen werden, dann hat sich der Aufwand dieser hochkarätig besetzten Produktion gelohnt.
Pitt Herrmann