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Alle Fotos (2)Biografie
Charlotte Reiniger, geboren am 2. Juni 1899 in Berlin-Charlottenburg, einziges Kind des Bankkaufmanns Karl Reiniger und seiner Frau Eleonore. Als Sechsjährige entwickelt sie Interesse am Theater, fertigt erste Scherenschnitte an; sie besucht Kinovorführungen, begeistert sich für Märchenfilme und Georges Meliès.
Bald beherrscht sie die Technik des chinesischen Scherenschnitts, schneidet Silhouetten für Schüler-Theateraufführungen, u.a. "Romeo und Julia". Besonders beeindruckt ist sie von Filmen, in denen Paul Wegener spielt: "Der Student von Prag" (1913), "Der Golem" (1914). In der Berliner Singakademie hört sie einen Vortrag Wegeners, erfährt zum erstenmal etwas über Trickfilm und die fantastischen Möglichkeiten des Films.
1916-17 Besuch der Schauspielschule, daneben Statisterie am Deutschen Theater. Es entstehen Schauspieler-Silhouetten, u.a. von Wegener, der ihr 1916 eine erste Filmarbeit gibt: Sie fertigt Titelumrahmungen für "Rübezahls Hochzeit", später für "Der Rattenfänger" an, daneben beschäftigt er sie als Statistin u.a. in "Der fremde Fürst". Auch Rochus Gliese beauftragt sie mit einer Silhouettenarbeit.
Durch Wegener lernt sie eine Gruppe junger, experimenteller Filmer kennen: Hans Cürlis, Karl Wirt und Carl Koch vom Institut für Kulturforschung in Berlin. Mit deren Hilfe realisiert sie im Herbst 1919 ihren ersten Animationsfilm "Das Ornament des verliebten Herzens": "Ein feines, liebenswürdiges, heiteres Drama voller Charme in allen Bewegungen, ohne Text, der ganze Inhalt in den Rhythmus der beiden Menschen und des mitschwingenden und glossierenden Ornamentes aufgelöst, aus einem Herzen geboren, in ein Herz zurückgleitend." (H. Cürlis, Kulturfilmbuch, 1924).
1920-24 dreht sie für den Produzenten Julius Pinschewer Werbefilme (u.a. "Die Barcarole" für die Pralinenhersteller Mauxion) und vier kurze Silhouettenfilme, die über 40 Wochen in den Ufa-Theatern laufen. 1923 stellt sie den Animationsteil "Falkentraum" für Fritz Langs "Die Nibelungen" her, der jedoch nicht verwendet wird. Im selben Jahr schlägt ihr der junge Bankier Louis Hagen die Finanzierung und Produktion eines langen Silhouettenfilms vor. Der Raum über der Gartenhaus-Garage seines Grundstücks am Potsdamer Jungfernsee wird zum Trickstudio umgebaut, und in fast dreijähriger Arbeit entsteht der erste abendfüllende Animationsfilm "Die Geschichte des Prinzen Achmed" (später: "Die Abenteuer des Prinzen Achmed) nach einem Märchen aus Tausend und einer Nacht.
Der 66minütige Film, für den über 250.000 Einzelbildaufnahmen der Scherenschnitte angefertigt werden, von denen dann ca. 96.000 Verwendung finden, entsteht "in fast asiatischem Fleiß" (Brecht, 1928) mit Hilfe von 6 Assistenten, darunter der Kunsthistoriker Carl Koch, den sie 1921 geheiratet hat, der sich um die Filmtechnik kümmert und als Aufnahmeleiter fungiert, sowie die Maler und Experimentalfilmer Walther Ruttmann und Berthold Bartosch, die Teile der Hintergründe anfertigen, Alexander Kardan und Walter Türk assistieren bei den Dekoationen. Der Film, nach einer Musik-Komposition von Wolfgang Zeller aufgenommen, wird coloriert und findet dennoch keinen Verleih. Brecht, der Mitte der 20er eine Zusammenarbeit mit Reiniger plant und bereits das Stück "Die Kaffeesackschmeißer" für einen Silhouettenfilm geschrieben hat, setzt sich für ihn ein und kümmert sich um die Pressearbeit.
Eine privat finanzierte Aufführung am 2.5.1926 in der Volksbühne Berlin, vor 2000 geladenen Gästen, ist ein großer Erfolg, die Presse reagiert positiv und der Film findet einen französischen Verleiher. In Paris erlebt der Film Anfang Juli 1926 in Louis Jouvets "Comédie des Champs Elysées" eine glanzvolle Premiere, die von Jean Renoir mitorganisiert wird, mit dem Koch/Reiniger eine lange Freundschaft verbindet. Nach dem Erfolg in Frankreich findet sich auch in Deutschland ein Verleiher und am 3.9.1926 ist die offizielle deutsche Premiere im Gloria-Palast.
Juli/August 1926 Urlaub mit Brecht in Südfrankreich, wo Reiniger Scherenschnitte zu Brechts "Drei-Groschen-Oper" herstellt. Das Exposé "Marie kommt", von Brecht und Elisabeth Hauptmann für Koch/Reiniger verfaßt, wird nicht realisiert. 1927/28 Zusammenarbeit mit Paul Dessau, Kurt Weill und Paul Hindemith, die die Musik zu "Doktor Dolittle" liefern.
Im Oktober 1929 beginnen die Dreharbeiten zum Spielfilm "Die Jagd nach dem Glück", zu dem Reiniger und Koch das Drehbuch geschrieben haben. Rochus Gliese führt Regie bei diesem noch stumm gedrehten Film, der später von Reiniger/Koch nachsynchronisiert wird. "Die Jagd nach dem Glück" "ist ein außerordentlich interessantes Experiment, das in vielen Abschnitten Zeichen von Talent, ja von Genialität trägt, als Ganzes betrachtet aber doch sichtbare Sprünge aufweist." (Kinematograph, 28.5.1930).
1930-32 entstehen drei kurze Silhouetten-Tonfilme, "10 "Minuten Mozart", "Harlekin" und "Sissi". 1933 folgt Reiniger ihrem Mann nach Paris, der dort als Co-Autor Renoirs arbeitet. Sie hält Filmszenen zu Renoirs "Madame Bovary" im Scherenschnitt fest und schneidet für Pabsts "Don "Quichotte" Silhouetten. 1934 Rückkehr nach Berlin, wo sie weitere Silhouettenfilme realisiert, u.a. "Papageno" nach Mozarts "Zauberflöte".
1936 erhält Reiniger eine Einladung nach England, wo sie erst in Bristol, dann im Victoria and Albert-Museum London ihre Sammlung ausstellen kann. Sie lernt John Grierson, Alberto Cavalcanti und Basil Wright kennen, realisiert "The King's Breakfast" und "The Tocher". Für Renoir erstellt sie die Schattenspielsequenz für "La Marseillaise". Während Carl Koch 1939 in Rom mit Renoir an einem Tosca-Film arbeitet, lebt Reiniger in Renoirs Haus in Antibes. Bei Kriegsausbruch 1939 folgt sie ihrem Mann nach Rom, wo sie bis 1943/ 44 mit Renoir bei Luchino Visconti leben.
Für die Scalera-Gesellschaft entsteht der nie fertiggestellte Kurzfilm "L'Elisir d'amore", nach der Oper von Donizetti. Daneben schreibt sie mit ihrem Mann an Drehbüchern: für "Tosca", seinen ersten Spielfilm (den er von Renoir übernimmt), und für "Una Signora dell'ovest", einen Western über italienische Auswanderer in Mexiko.
1944 wieder in Berlin, betreut Reiniger ihre Mutter und arbeitet fürs Reichsinstitut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht. 1945 Gründung der "Berliner Schattenspiele", zusammen mit der Puppenspielerin Elsbeth Schulz. 1946/47 Bühnenbildnerin am Theater am Schiffbauerdamm. Da sie aber beruflich nicht wieder Fuß fassen kann, zieht das Ehepaar Koch/Reiniger 1949 endgültig nach London, wo sie Arbeit bei den Puppenspielern Hogarth-Bussell finden. Ab 1951 lebt und arbeitet Reiniger zusammen mit ihrem Mann in der Künstlerkolonie "The Abbey Arts Centre", einem ehemaligen Kloster in New Barnet bei London.
Für die Ground Film Unit (GFU) und für John Giersons General Post Office Film Unit (GPO) stellt sie "Greatings-Telegrams", "Post Early for Christmas" und "Radiolizenz" her. 1953 mit Louis Hagen jun., dem Sohn ihres Produzenten aus Potsdam, Gründung der "Primrose Productions", die 1953-55 insgesamt zwölf kurze Animationsfilme für die BBC und das amerikanische Femsehen produziert.
Nach dem Tod ihres Mannes (1.12.1963), wirkt Reiniger verstärkt für das Theater, stellt Schattenspiele für Zwischenspiele her, illustriert Bücher und schreibt 1969/70 "Shadow Theatre and Shadow Films". Im Sommer 1971 entstehen 146 Scherenschnitte zu den vier Mozart-Opern "Hochzeit des Figaro", "Don Giovanni", "Cosi fan tutte" und "Die Zauberflöte", die 1988 veröffentlicht werden. Sie unternimmt Vortragsreisen und veranstaltet Workshops über ihre Scherenschnitt- und Animationstechnik, vor allem in den USA und Kanada, aber auch in Frankreich, Norwegen, Türkei, Deutschland und Italien.
1975 beginnt die Zusammenarbeit mit dem National Film Board of Canada, für das sie 1976 den l6minütigen Kurzfilm "Aucassin et Nicolette" nach einer mittelalterlichen, französischen Ballade realisiert. 1979 entsteht nach zweijähriger Vorarbeit für den kanadischen Produzenten Gordin Martin der 24minütigen Animationsfilm "The Rose and the Ring", der auf einer Geschichte von Thackeray basiert.
Im Herbst 1980 zieht Reiniger nach Dettenhausen bei Tübingen zu der befreundeten Familie des Pfarrers und Schattenspielers Alfred Happ. Neben Vorträgen und Film-Veranstaltungen, tritt sie gemeinsamen mit den Happs mit Schattenspielaufführungen auf. Während der Kino-Ausstellung "Licht Träume und Schatten Bilder" des Filminstituts in Düsseldorf dreht Reiniger im September 1980 an ihrem Original-Tricktisch den 8minütigen Animationsfilm "Die vier Jahreszeiten".
Lotte Reiniger stirbt am 19. Juni 1981 in Dettenhausen. In Tübingen wird 1992 das Lotte Reiniger-Museum eröffnet.
CineGraph – Lexikon zum deutschsprachigen Film
© 1984ff edition text+kritik im Richard Boorberg Verlag, München.