Gunter Deller, Mal Seh'n Kino (Frankfurt/Main)

Als ich Mitte der 80er Jahre mit meinen Super-8-Filmen unter dem Arm aus der bayrischen Provinz nach Frankfurt reiste, um sie im neugegründeten Werkstattkino "mal seh'n" zu zeigen, hätte ich nicht geahnt, dass ich dort zwei Jahre später als Filmvorführer arbeiten und mir wiederum einige Jahre später die Programmleitung anvertraut würde. Von der ersten Begegnung an war jedenfalls klar: Hier handelte es sich um einen ganz besonderen Ort, den Hans Bornemann, Beatrix Loew und andere Filmverrückte (Verein zur Förderung von Lichtbildern und Filmen e.V.) im Frankfurter Nordend in einer ehemaligen Turnhalle, einem Gebäude der Blindenanstalt eingerichtet hatten. Will man ins Kino, betritt man zunächst ein gemütliches Café mit Dielenboden und einer hohen Holzbalkendecke, inzwischen auch mit einem glasüberdachten äußeren Bereich. Der Kinosaal, nicht riesig, aber auch kein Schachtelkino, ermöglicht eine ganz besondere Intimität beim Filmsehen und Publikumsgespräch. Technisch musste man sich anfangs noch auf 8- und 16mm-Filme beschränken. Das Kino bot Filmemachern aus der Region und darüber hinaus in den politisch und ästhetisch bewegten 80er Jahren Raum für Projektionen und Diskussionen, in den 90ern verebbten die Undergroundbewegungen langsam, es veränderte sich auch das Zuschauerverhalten. Dem musste durch eine Veränderung der Programmstruktur Rechnung getragen werden.

 
Quelle: Mal Seh'n Kino
Eingangsbereich des Mals Seh'n Kinos
 

So wurde das "Mal Seh'n Kino" zu einem Programmkino, das sich jedoch einen Hang zum Ausgefallenen bewahrt hat, dem Dokumentarfilm großen Platz einräumt und immer mal experimentelle Filmreihen konzipiert. Der Kinosaal mit 80 Plätzen wurde im Lauf der Jahre mehrmals umgebaut und den gängigen technischen Standards angepasst: 35mm-Projektion mit allen Bild- und Tonformaten (von Mono bis Dolby-Digital), außerdem die Möglichkeit der Projektion von Video. Und natürlich nach wie vor von 16mm- und Super-8-Filmen, was in anderen kommerziellen Kinos meist nicht mehr möglich ist. Nach einer finanziell angespannten Phase Ende der 90er Jahre und diversen Betreiberformen übernahmen wir als Verein im April 1999 wieder die Geschäfte und Geschicke des Kinos. Ich wurde dadurch vom Filmvorführer und Programmgestalter zum Mitbetreiber, und der kollektive Geist hielt wieder Einzug: Zuständig für das Filmprogramm sind nun die Theaterleiterin Ariane Hofmann und ich, Beatrix Loew sorgt sich um das Café und die Finanzen, Martin Loew kümmert sich um die Öffentlichkeitsarbeit, stellt Kontakte her und pflegt die Homepage. Und jeder macht noch viel mehr. Ein täglich laufender Betrieb erfordert vollen Einsatz, und vieles davon wird in ehrenamtlicher Arbeit erledigt. Wir kommen aus unterschiedlichen Bereichen, fast alle haben noch einen anderen Job – was uns verbindet ist die Liebe für das Kino.

Quelle: Mal Seh'n Kino
Thekenbereich und Eingang zum Kinosaal
 

Kino habe ich erst spät entdecken dürfen. Im Elternhaus wurde Film nicht geschätzt, im katholischen Internat war Kinobesuch streng untersagt – Kino war für mich immer ein verbotener Ort der Sehnsüchte. Die filmische Bildung holte ich mir übers Fernsehen. Und daher erwuchs auch der Wunsch, selbst Filme zu machen. Die frühe Super-8-Arbeit und ein Filmstudium halfen auf dem Weg, Aufführungen auf vielen Festivals und Auszeichnungen bestärkten mich in der Wichtigkeit dieser Tätigkeit. Das Zeigen der eigenen Arbeit ist von den gleichen Impulsen angetrieben, die mich als Kinomacher bewegen: der Welt etwas zeigen zu wollen, von dem man meint, dass sie es unbedingt sehen sollte. Es ist die eigene Begeisterung für die Filme, die man vermitteln will. Und es ist ein höchst befriedigendes Gefühl, wenn diese von vielen Besuchern unter dem Dach des eigenen Kinos geteilt wird. Aber auch wenn ein Werk nur wenige Besucher lockt - bei manchen Filmen ist das schon vorhersehbar -, so zeigt man sie dennoch, im Gefühl ihrer Wichtigkeit und auch nicht ohne Stolz. Das hat sicher etwas Missionarisches, aber für mich hat der Kinobesuch sowieso kultisch-religiösen Charakter. In Wirklichkeit besteht die Programmarbeit natürlich aus einer klar kalkulierten Abwägung dieser eigenen Interessen mit Erfahrungswerten, unserem Publikumsverhalten, mit aktuellen Themen, Debatten und Zeitströmungen, und wir sind natürlich auch abhängig vom Verleihangebot.

Quelle: Mal Seh'n Kino
Der Kinosaal
 

Das Gemeinschaftserlebnis im Kino ist wichtig, dennoch glaube ich, dass das Kino als Massenmedium ausgedient hat. Die sinkenden Besucherzahlen in den Multiplex-Kinos bestätigen das. Ich habe diese Kinos nie als Konkurrenz empfunden, zu unterschiedlich sind unsere Ausrichtungen. Unsere Besucherzahlen haben im Schnitt kontinuierlich zugenommen. Endlich kommt dem Film die Funktion zu, die ihm gebührt, nämlich als eine Kunstform. Das Kino, so wie wir es betreiben, war, ist und bleibt ein Ort der kritischen, ästhetischen und politischen Auseinandersetzung, und das kann auch unterhaltsam sein. Die Tatsache, dass das "Mal Seh'n Kino" sich inzwischen 21 Jahre in Frankfurt behauptet, beweist die Wichtigkeit von gewachsener und persönlich-geprägter Kinokultur, die den Film ernst nimmt – so zeigen wir beispielsweise ausländische Filme ausschließlich in der OmU-Fassung -, die aber auch den Besucher nicht für dumm verkauft und ihm öfter mal etwas Unkonventionelles zumutet. Ein Kino muss Risiken vertragen können, und ohne Subventionen mit nur einem Saal und 80 Plätzen (wobei ein zweiter Saal nicht verkehrt wäre), ist dies nur mit zusätzlichen Einkünften über das Café möglich, wenn ohne großen Personal- und Kostenaufwand, dafür aber mit viel Enthusiasmus gearbeitet wird.

Quelle: Mal Seh'n Kino
Das Mal Seh"n-Team (v.l.n.r.): Ariane Hofmann, Gunter Deller, Beatrix Loew, Martin Loew
 

Die Zukunft des Kinos ist digital. Ich verschließe mich dem nicht, fürchte aber um den Verlust der Filmgeschichte durch eine Vereinheitlichung aller Formate, wie sie teilweise schon praktiziert wird. Als Kino sehen wir uns verpflichtet, ein Bewusstsein zu schaffen für Film als Film. Wir möchten jeden Film so zeigen, wie ihn sich seine Macher auch gedacht haben: im richtigen Filmformat, mit der richtigen Maskierung und Optik.

Gunter Deller ist seit 1999 Mitbetreiber des "Mal Seh'n Kino" in Frankfurt am Main.