Lichtspiele

Hans Land: Lichtspiele.
In: Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914. Hrsg. v. Jörg Schweinitz. Leipzig: Reclam 1992. S. 18-20.

Ein verkrachter Konzertsaal für klassische Musik war die reale Vorbedingung für das Erstehen der "Lichtspiele". Man hatte einen ansehnlich gebauten großen Raum. Was damit beginnen? Es lag eigentlich nah, wie alle guten Ideen. Man machte einen Kientopp – aber einen feinen. Es hatte gewisse Spekulantenköpfe schon lange gewurmt, daß die Filmtheater sozial so auf den Hund gekommen waren. In den allerobskursten Straßen vermieteten verzweifelte Hausbesitzer leerstehende Kneipen und Zigarrenläden an Kino-Unternehmer, und der Herr Hausdiener wußte nun, wohin er nobler Weise sein Fräulein Braut zu führen hätte. Für zwanzig Pfennig eine Stunde Vergnügen, noch dazu in mollig verdunkeltem Raum und in drangvoll fürchterlicher Enge aneinander gekuschelt. Es war eine Sache. Aber sie blieb doch kommun. Es gab zwar Leute von hoher Steuerklasse, die den Topp fanatisch liebten: sie gingen aber nur mit scheuem Blick hinein und litten drinnen von den Ziehjarrn, für welche der Berliner den schönen Namen Pijart geschaffen hat, ohne daß der sie besser riechen macht.

Es ist ein eigenes Ding – diese Leidenschaft des homo sapiens für den Kientopp. Er ist eigentlich nichts andres als der Märchenerzähler aus dem Orient, zu uns verpflanzt und ins Technische übertragen. Wir lassen uns etwas erzählen. Unsre Augen hören zu, und den Ohren wird zum Trost für ihre Umgebung ein wenig Musik gemacht. Und die war in den Kientöppen zum Herzzerreißen. Man konnte da doch die ganze Gefühlsroheit der menschlichen Natur erkennen. Wenn der vor Eifersucht rasende Bräutigam die holde Braut erdolcht, und die elektrisch betriebene Drahtkommode oder der Spieler intoniert dazu: "Kind, du kannst tanzen wie meine Frau", oder wenn der Lebendigbegrabene den Sargdeckel aufstieß, und das Orchestrion trompetete: "So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage!" – so ließ das nicht auf Zartempfinden schließen. Man konnte nervös werden. Immerhin überwogen dennoch die Reize. Man ging trotzdem in den Kientopp, denn die Exzentriks waren manchmal zum Heulen komisch, die Kindergeschichten rührend und die Entführungsromane ganz unsagbar blödsinnig.

Da nahm ein findiger Kopf seinen Bleistift und rechnete: Wenn ihr statt einer halben anderthalb Mark zahlt, so lade ich euch in einen ragenden Saal, biete euch Protzenlogen an, pflanze ein Rudel Saaldiener in pikfeiner Livree an die Türen, stelle euch ein richtiges Orchester, von einem Kammermusiker dirigiert, und zeige euch Bilder in Lebensgröße, erlesene Aufnahmen in prachtvoller Naturtreue! Und so geschah"s. Jetzt fahren die Autos am Nollendorfplatz vor, man bricht den Hals um ein Billett, und Herr Direktor Halm, der Hausgenosse, wird leider bald zum Selbstmord schreiten. Denn das ist zweifellos: dem Theater ersteht in solchen Lichtspielen der geschworene Feind, der für viel billigeres Geld zumeist ungleich bessere Unterhaltung bietet. Wo ist die Bühne, die dem Aktualitätsbedürfnis des modernen Menschen die gleiche Befriedigung schaffen kann wie das Kinotheater? Jede Sensation der Zeitgeschichte kann hier nach- und miterlebt werden.

Mehr noch. Der Film zieht den Vorhang von den intimsten Dingen. Es ist kaum glaublich, aber wahr, daß Kaiser Wilhelm der Zweite auf dem Deck seiner Jacht Hohenzollern ein Gespräch – oder sagen wir präziser: ein Zusammensein mit dem bergenser Konsul Mohr kinematographieren ließ. Man ließ die Männer beisammenstehen, reden, gestikulieren. Der Kaiser legt dem Konsul vertraulich die Hand auf den Rücken, schenkt ihm einen Orden und scherzt und lacht mit ihm. Wie seltsam, daß er die Genehmigung dazu gab, diese Szene auf solchem Wege in die Öffentlichkeit zu bringen. Aber es ist vielleicht klug. Es bringt ihn den Menschen näher. Noch intimer ist die Szene, wo der Kaiser mit zwei Teckelhunden und seiner Tochter auf Deck sitzend eine friedliche Gruppe bildet. Wenn dieses Verhalten Wilhelms des Zweiten dem Kinematographen gegenüber nachgeahmt wird, so können wir uns auf interessante Dinge gefaßt machen. Ich sehe da Sachen kommen, wie etwa: "Bethmann Hollweg in seinem Arbeitszimmer sich über die preußische Wahlreform entschließend." Der Moment ist groß und schicksalreich und zeigt den gewaltigen Staatsmann auf seinem Diwan –eingeschlafen. Und ähnlich. Die Perspektiven sind unabsehbar.

Doch im Ernst: die abgekürzte Chronik der Zeit – hier ist sie! Die Lichtspiele bringen schon heute in ihrem Programm eine Nummer, die "Wochen-Chronik" heißt. Wie lange noch, und wir werden die gesegnete Kreuzzeitung nur noch in Bildern genießen. Auch die "Staatsbürgerin" trifft schon kinematographische Anstalten und soll das von der Münchner Ausstellung vertriebene Pogrombild als ersten Kino-Leitartikel verwenden wollen.

Sie ist ein Zauberding, die Filmmaschine, ein rechter Mantel des Faust: führt uns nach Java als Zeugen eines Volksfestes, läßt uns für zehn Minuten mit den Antipoden leben, baut Brücken über Zeit und Raum hinweg und bringt ganz zweifellos einen neuen süßen Reiz in dies phantastische Leben, das wir Genießer der neuen Techniken führen. Von ethnographischen Streiferein zu den Träumen des Märchens, von einer anschaulichen Belehrung, die etwa über Austernfang und Austernzucht eine Landratte aufklärt, zu einer Burleske, die uns Tränen lachen macht, und zu einer Nordlandfahrt mit dem Gottesgnadentum, zu der wir ohne jede Mitwirkung des Oberhofmarschallamts eingeladen werden – ich kann nur sagen: Max Reinhardt tut mir leid. Denn trotz Shakespeare, Freksa und beiden Hollaenders kann der da doch nicht mit, und wenn er sich noch zehn Bassermänner zu noch tollern Preisen engagiert. Es tut mir leid – aber es ist nicht anders.

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