Das Forum präsentiert sich unter der neuen Leitung von Barbara Wurm gewohnt gewagt, was das offensive Interesse am Filigranen und Fragmentarischen angeht. Das Programm zeigt jedoch auch eine deutliche Öffnung hin zu mitunter größeren und auf den ersten Blick geläufigeren Formen des Kinos.
So steht neben dem malaysischen Debütfilm "Oasis of Now" – der, sanft-präzise fotografiert, ein Apartmenthaus migrantischer Arbeiter*innen porträtiert und die vietnamesische Nail-Artistin Ta Thi Diu zum stillen Star macht – mit "Holy Week" von Andrei Cohn eine in ihrer intelligenten Tiefenschärfe herausragende Gewaltpsychologiestudie, die nicht zuletzt einiges über Antisemitismus erzählt. Das eine Ende des Spektrums zwischen Autoren- und Genrefilm markiert das US-Indie-Kleinod "The Wrong Movie" von Keren Cytter – Chillen als Tragödie; das andere der südkoreanische Horrorthriller "Pa-myo" ("Exhuma") mit Oldboy-Star Choi Min-sik als Feng-Shui-Experte, der Seite an Seite mit einer performancestarken Schamanin den von Klassenfragen begleiteten Exhumierungsprozess vorantreibt und dabei das Genre spielend unterwandert.
"Starke Performance" ist womöglich die treffendste Beschreibung einer veritablen Vielzahl großartiger Frauenfiguren im Programm des Forum 2024. Das in seiner fließenden Ruhe und durch erzählerisch gut gesetzte Ellipsen markante Spielfilmdebüt von Yennifer Uribe Alzate, "La piel en primavera" ("Skin in Spring"), zeigt den Verwandlungsprozess einer Frau durch beeindruckende Verkörperung – dargestellt wird diese von Alba Liliana Agudelo Posada, eine Entdeckung. Ähnlich eindrucksvoll, aber im Umgang mit Körperlichkeit doch grundverschieden, ist ein weiteres Debüt einer Regisseurin – Anna Cornudellas "The Human Hibernation", ein großartig fotografierter, meditativer Öko-Sci-Fi-Film. Doch nicht nur Erstlingsfilmen gilt die Aufmerksamkeit des Forums: Wir freuen uns besonders, die Weltpremiere von Shô Miyakes viertem Spielfilm "Yoake no subete" ("All the Long Nights") präsentieren zu dürfen, einer so elegant-schlichten wie leichtfüßigen Studie des Sich-Gegenseitig-Beim-Leben-Helfens: Mone Kamishiraishi (als von PMS geplagte Misa Fujisawa) und Hokuto Matsumura (als Angestellter Takatoshi Yamazoe mit Panikattacken) bilden ein klein-großes Dreamteam des gegenwärtigen japanischen Kinos – der Kunst der Zurückhaltung eines Ozu auf den Spuren.
Mit geballter Energie und jeder Menge kreativen Ideen gefüllt ist das Spielfilmdebüt von Narges Kalhor, die in "Shahid" neue Maßstäbe des hybriden autobiografisch-postmigrantischen Films setzt, und ebenso viel über Deutschland wie über den Iran erzählt. Man kann den dokumentarischen Regieerstling von Kameramann Faraz Fesharaki ("What Do We See When We Look at the Sky?", Berlinale Wettbewerb 2021) daneben stellen, "Was hast du gestern geträumt, Parajanov?" – eine Entfernung und Verbindung fein ausbalancierende Video-Diaspora-Studie der eigenen Familie. Zwei junge deutsch-iranische Stimmen – mit tragikomischer Lakonie der eine, mit tänzerischem Elan die andere – die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen einfangend.
Deutsche Produktionen sind im Forum 2024 insgesamt gut vertreten: Neben Romuald Karmakars dreistündiger monumentaler Institutions- und Gegenwartsanalyse "Der unsichtbare Zoo", gedreht im Zürcher Zoo, stehen mit "Reproduktion" von Katherina Pethke und "Ihre ergebenste Fräulein" von Eva C. Heldmann zwei weitere dokumentarische Arbeiten, denen die Verbindung des Exemplarischen mit den großen Fragen des alltäglichen Lebens eindrucksvoll gelingt: Im Kontext des Gebäudeensembles der Hamburger Kunstschule und Geburtsklinik erforscht Pethke – mal sachlich, mal privat, doch stets stringent und präzise – die (Un-)Vereinbarkeit von Mutterschaft und Karriere, indem sie ihre eigene Biographie an den jeweiligen Maximen der konservativen 1950er-Jahre, der revolutionären 1970er-Jahre und der neoliberalen Gegenwart spiegelt, und dabei auch vom weiblichen Aufbrechen des Kunst- und Architekturgeschichtekanons erzählt. Heldmanns frei-flottierender Essayfilm wiederum stellt die Pädagogin und Botanikerin Catharina Helena Dörrien und ihre Zeit im 18. Jahrhundert in Oranien-Nassau ins Licht: Behutsam durch Folianten blätternd und durch Grasblumen streifend, finden Naturphilosophie und Sozialpolitik zueinander.
"Es war faszinierend", so Sektionsleiterin Barbara Wurm, "bei der Auswahl zu verfolgen, wie deutlich sich über die großen Themen der Gegenwart – wie Armut oder Genderungleichheit, Kriegssituation oder Nachkriegstrauma, Neoliberalismus oder -autoritarismus – in vielen Filmen der Versuch legt, von Erbauung und Aufklärung, Reflexion und Empathie zugleich zu handeln. Neben einer Spielfilmentdeckung wie Siddartha Jatlas "In the Belly of a Tiger", dem zweiten ausdrucksstarken indischen Film unseres Line-Ups, der schlichtweg ergreift, betrifft das auch drei essayistisch-dokumentarische Arbeiten: "As noites ainda cheiram á pôlvora" ("The Nights Still Smell of Gunpowder") von Inadelso Cossa – ein Förderprojekt des World Cinema Fund - und "Resonance Spiral" von Filipa César und Marinho de Pina sowie "L'homme-vertige" ("L'homme-vertige: Tales of a City") der aus Guadaloupe stammenden Künstlerin Malaury Eloi-Paisley. Menschlichkeit statt Zerstörung, Beziehung statt Vereinsamung sind die Züge des aktuellen Kinos mit postkolonialer Thematik."
Das Programm des 54. Forums bietet essayistisch-medienreflexive Höhepunkte – neben den genannten besonders "Il cassetto segreto" ("The Secret Drawer") der Sizilianerin Costanza Quatriglio und "Spuren von Bewegung vor dem Eis" von René Frölke, die sich einmal eher persönlich (die Filmemacherin als forschende Tochter), im zweiten Fall das exakte Maß an dokumentarischer Nähe und Distanz abstrakter auslotend, als Archivfilme mit Entdeckungspotenzial erweisen und unseren Bild- und Buchkanon revidieren. Altbekannte und neue Autorenfilmer*innen mit klein ansetzenden, am Ende großen Würfen – "Gokogu no Neko" ("The Cats of Gokogu Shrine") von Kazuhiro Soda sowie "Henry Fonda for President" von Alexander Horwath sind ebenso wichtige Pfeiler der Auswahl wie jene Filme, die in die nüchtern-bittere Realität reichen: "Oasis" etwa – direktes politisch-aktivistisches Kino und demokratisches Schlachtengemälde aus Chile – oder "Intercepted", eine hochgradig intelligente Montage aus ukrainischen Zerstörungszustandsbildern und abgehörten russischen Soldatenstimmen sowie den Stimmen ihrer Mütter und Frauen.
Last but not least, ein Film, gedreht vor, fertiggestellt aber erst während jenes Kriegs, den Russland seit 2022 offen gegen die Ukraine und die Demokratie führt: "Redaktsiya" ("The Editorial Office") von Roman Bondarchuk. Eine selbstkritische Auseinandersetzung mit Korruption und postsowjetischen Realitäten, skurril, wild, frei, frech, genau. Humorvoll und liebevoll. Kino eben.
Das 54. Forum ist übrigens das letzte, das im Kino Arsenal am Potsdamer Platz stattfindet – vor dem Umzug ins silent green Kulturquartier im nächsten Jahr.
Quelle: www.berlinale.de