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Ein aberwitziges Werk zwischen Realität und Fiktion, Theater und Musical. Die Regisseurin Narges Shahid Kalhor lässt sich von einer Schauspielerin verkörpern. Das "Shahid" (Märtyrer) in ihrem Familiennamen möchte sie tilgen, die Namensänderung wird zur Mission. Da taucht ihr heldenhafter Urgroßvater auf, der vor 100 Jahren im Iran zum Märtyrer ernannt wurde und seinen Nachkommen diesen Namen beschert hat. Er versucht, die Urenkelin von ihrem Plan abzubringen, und begleitet ihre Wege nun mit seinen tanzenden Kumpels. Das bayerische Kreisverwaltungsreferat aber schickt die Protagonistin zum Psychologen, ebenfalls mit schwierigem Namen …
Alle scheitern: die Regisseurin an der Bürokratie, die Schauspielerin an den Anforderungen der Regisseurin, der Urgroßvater am Willen der Enkelin und der Film an sich selbst. Der Wind der Geschichte weht sie in immer neuen Schleifen durch die deutsche Kulissenstadt, durch den eigenen Filmdreh, in dem Zuschreibungen und Privilegien performativ, fabulierend und dokumentarisch mit immensem Spaß durchgeschüttelt werden. Doppelbödig und autofiktional, mit Bilderbögen, Liedern und Gedichten: eine tragikomische, widerständige Selbstermächtigung im Exil.
Quelle: 74. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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Die der äußeren Schale einer Zwiebel gleichende Rahmenhandlung ist eine kafkaeske Realsatire auf die deutsche Bürokratie: Die Münchner Filmemacherin Narges „Shahid“ Kalhor, die seit zehn Jahren in Deutschland lebt und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, möchte den vom Urgroßvater ererbten Ehrentitel „Shahid“, auf Deutsch „Märtyrer“, aus ihrem Nachnamen entfernen lassen. Über die grotesken Anforderungen des bayerischen Staates dreht sie nun einen Film, ihren Part übernimmt die Schauspielerin Baharak Abdolifard, die – als Barkeeperin in Ausbildung - bei der Beamtin des Münchner Kreisverwaltungsreferates einen ganzen Stoß notwendiger Papiere abliefert.
Zwei letzte Hürden gilt es noch zu überspringen. Zum einen bleibt sie lebenslang Bürgerin ihres Geburtslandes und kann daher nicht auf Hilfe des iranischen Konsulates hoffen: in Deutschland müssen Namensänderungen in allen amtlichen Papieren vorgenommen werden. Zum anderen muss sie noch ein „Psychologisches Gutachten der seelischen Belastung“ beibringen, weshalb sie beim Psychotherapeuten Stefan Ribbentrop gleich eine ganze Reihe von „Sitzungen“ buchen muss. Der ihr prompt eine „Posttraumatische Belastungsstörung“ attestiert, was sich, so sein erster Überschlag, auf 2.000 Euro subsummieren könnte.
Die darunter liegenden Zwiebelschalen offenbaren dokumentarische Bilder aus dem heutigen Iran und eigene Aufnahmen aus ihrer Zeit im bayerischen Auffanglager Zirndorf. Anrührend die inszenierte zufällige Begegnung mit einem früheren Lager-Mitbewohner (Shernin Khalili), der jetzt einen Münchner Kiosk besitzt. In die Tiefe der Vergangenheit Persiens und damit des Urgroßvaters Gholam Hossen Tehrani, dem 1907 zum Märtyrer gewordenen Revolutionär, führt der Erzähler Pardeh Khani im Stil eines fahrenden Moritatensängers. Verbunden mit der für die Regisseurin schmerzlichen Erkenntnis, dass eigentlich ihre Urgroßmutter, eine Kurdin aus dem Kalhor-Stamm, im Mittelpunkt ihres Films stehen müsste, trägt sie doch schließlich ihren Namen. Apropos Namen: Reichlich an den Haaren herbeigezogen die eingeschobene Moritat vom Werdegang Joachim von Ribbentrops als Außenminister des Dritten Reichs und Vertrauter Adolf Hitlers ohne familiären Bezug zum Psychotherapeuten.
Reichlich dick aufgetragen auch Narges Kalhors Positionierung als Teil der Weltgeschichte, wenn auch zurückgenommen durch die Greenscreen-Offenbarung in einer von zahlreichen bewusst fiktionsbrechenden Making-off-Szenen. Die vom gedoubelten Filmteam (Noah Schuller als Kameramann Felix, Antonia Meier als Kostümdesignerin Julia) über Regieanweisungen bei laufender Kamera bis hin zum offenen inhaltlichen Disput zwischen der Regisseurin und der sie verkörpernden Schauspielerin reichen: Narges Kalhor ist sich ihrer ästhetischen Mittel allzu bewusst.
Zum hochartifiziellen inneren Kern der Zwiebel aber führen Traumsequenzen, Überblendungen und verrätselte Choreographien: die Regisseurin, verfolgt von ihrem Urgroßvater und dessen tanzenden Derwischen, umgeben von einem Briefträger, der mit Schah-Marken frankierte Post austrägt, und einem philosophierenden Straßenreiniger, der wie alle Beteiligten auch schon ‘mal ein Lied anstimmt, ohne dass „Shadid“ gleich zum Musical wird. Nur ein einziges Mal, und dann übernimmt Narges Kalhor selbst ihre Rolle, werden die finsteren Derwische durch fröhliche Tänzerinnen (Raphaela Beier, Julia Weiermann, Martina Sedlmeier und Dana Riaki) ersetzt – als sich die Regisseurin an ihre Urgroßmutter erinnert. Am Ende trifft Narges „Shahid“ Kalhor die radikale Entscheidung, den Großvater zu töten, bricht aber plötzlich die Dreharbeiten ab...
Die Komödie „Shahid“ ist eine gesellschaftskritische Satire über die Pflicht zum Widerstand, nicht nur im Iran, sondern genauso auch in der neuen Heimat. Die Regisseurin arbeitet mit dokumentarischen, fiktiven und performativen Elementen, die Bildsprache offenbart die fließenden Grenzen zwischen Heldentum und Scheitern, das eigene der Filmemacherin eingeschlossen – eine ganze Menge für ein Debüt.
Pitt Herrmann