Biografie
Gitta Nickel wurde am 28. Mai 1936 im ostpreußischen Briensdorf (heute Polen) geboren. Während des Krieges floh ihre Familie nach Plankendorf im Harz, wo Nickel aufwuchs. Später verließ sie die ländliche Region und zog nach Berlin, um an der Humboldt Universität ein Studium der Pädagogik und Germanistik aufzunehmen, welches sie 1957 mit dem Staatsexamen für Lehrer abschloss. Schon während ihres Studiums schloss sich die "kinobesessene" Nickel einer Laienschauspielgruppe an, um ihrem frühen Berufswunsch der Schauspielerei nachzugehen. 1959 wurde sie Regieassistentin im DEFA Studio für Spielfilm, wo sie für Joachim Kunert, Konrad Wolf, Ralf Kirsten und Heinz Thiel arbeitete.
1963 wechselte sie ins DEFA Studio für Wochenschauen und Dokumentarfilm und assistierte unter anderen Karl Gass, mit dem sie von 1964 bis 1970 auch verheiratet war, bei seinen Filmen "Asse" und "Feierabend". Zwei Jahre später realisierte sie ihren ersten eigenen Dokumentarfilm "Wir verstehen uns" (1965) über einen deutsch-sowjetischen Kindergarten in Berlin. Dieser erhielt auf dem Internationalen Filmfestival in Moskau das Diplom für das Beste Regie-Debüt. Von der Freundschaft und den im Alltag sich manifestierenden Beziehungen zwischen der DDR und der Sowjetunion handelten auch ihre beiden folgenden Filme: "Dann springt mein Herz" (1966) über die Auftritte eines sowjetischen Militärensembles in der DDR, sowie "Sibirien – mein Haus" (1967) über die Bewohner eines Dorfes jenseits des Uralgebirges. Letzterer betonte zudem den wichtigen Beitrag der Jugend zu den gesellschaftlichen Umwälzungen im Land. In ihren nächsten Arbeiten richtete Nickel ihr Augenmerk vermehrt auf die jüngere Generation. So schildert "Lieder machen Leute" (1968) das Leben junger Menschen rund um den Berliner "Oktoberklub" – eine politische Liedgruppe - und die sozialpolitischen Möglichkeiten, die diesen mit der "Singebewegung" verbanden. Auch später noch widmete sie sich diesem Thema.
1970 beschäftigte sich Gitta Nickel erstmals mit der Rolle der Frau in der DDR-Gesellschaft. In der Dokumentation "Sie", die große Aufmerksamkeit erlangte, wurden die Lebens- und Arbeitsrealitäten von fünf Arbeiterinnen eines Textilunternehmens zwischen Fabrik und Familie dargestellt. Darüber hinaus behandelte "Sie" persönliche Sorgen der Frauen, etwa rund um die Pille. Für diesen Film bekam Gitta Nickel mit der Silbernen Taube ihre erste von zahlreichen Auszeichnungen des Internationalen Dokumentarfilmfestivals Leipzig.
Die Stellung der Frau bildete einen weiteren Themenkomplex, dem sich Nickel in ihrer Karriere immer wieder annahm. Schon 1971 folgte "Im Märzen die Bäuerin", ein Film über die Gleichberechtigung auf dem Land, am Beispiel des Dorfes Worin, mit alten Volksliedmotiven unterlegt. Auf der Recherche zu diesem Film aufbauend entstand im nächsten Jahr "Heuwetter" (1972), der sich nun allgemeiner mit den Problemen der Landwirtschaft in einem Dorf im Oderbruch auseinandersetzte. Dieser gewann ebenfalls die Silberne Taube in Leipzig.
Im Laufe der 1970er Jahre arbeitete Nickel zunehmend fürs Fernsehen. So entstanden zusätzlich zu ihren gesellschaftlichen Dokumentationen ab 1971 einige Porträts über Kulturschaffende der DDR. Für den ersten Film dieser Reihe über den Theatermacher Walter Felsenstein (1970) konnte Nickel erstmalig die Goldene Taube entgegennehmen. Daraufhin entstanden Filme über Gret Palucca (1971), Paul Dessau (1974), Konrad Wolf (1977) und Gisela May (1977). Später folgten Renate Holland-Moritz (1984), Vladimir Pozner (1984), Siegfried Matthus (1989) und István Szabó (1993).
Neben ihrer praktischen Arbeit engagierte sich Nickel ab 1972 im Verband der Film- und Fernsehschaffenden der DDR, sowohl als Mitglied des Präsidiums wie später auch des Vorstandes.
Die Rolle der Frau griff Nickel erneut 1973 in ihrem Dokumentarfilm "Tay Ho - Das Dorf in der 4. Zone" auf. Darin porträtierte sie die junge Bürgermeisterin des vietnamesischen Dorfes Tay Ho, wieder mittels sehr persönlicher Einblicke und Gespräche. Für diese Arbeit erhielt sie nicht nur ein weiteres Mal die Goldene Taube, sie wurde im selben Jahr auch mit dem Kunstpreis der DDR ausgezeichnet. Doch nicht nur nationale Preise erhielt Nickel im Laufe ihrer Karriere, auch international wurde ihre Arbeit mit Auszeichnungen in Moskau, Prag, Budapest und Oberhausen gewürdigt.
In ihrem ebenfalls mit der Silbernen Taube ausgezeichneten Film "Jung sein, und was noch?" von 1977 begleitete sie eine Jugendbrigade in Stralsund. Ebenso betonte sie mit ihrem Folgefilm "Manchmal möchte man fliegen" (1981) anhand der Erbauung des Berliner Stadtteils Marzahn durch junge Arbeiter die tragende Rolle der Jugend in der Gesellschaft der DDR. Das Werk war ihr letzter mit einer Silbernen Taube prämierter Film.
Zumeist arbeitete Gitta Nickel in einem festen Kollektiv, unter anderen mit dem Kameramann Niko Pawloff. Zudem verzichtete sie häufig auf Drehbuch oder Szenenvorlagen und auf jeglichen Kommentar. Die Bilder sollten für sich stehen und den Zuschauer sich selbst und seinen eigenen Gedanken überlassen. Für den Schnitt ihrer Filme zeichnete Gitta Nickel fast ausschließlich selbst verantwortlich.
Im Jahre 1980 übernahm Nickel die Präsidentschaft des Nationalen Festivals für Dokumentar- und Kurzfilme Neubrandenburg, die sie bis 1984 innehatte. Ebenfalls 1984 wurde ihr eine der höchsten Auszeichnungen der DDR verliehen, die Ernennung zum "Held der Arbeit".
In den 1980er Jahren drehte Nickel verstärkt alltagsnahe Charakterporträts, etwa über eine Krankenschwester, die nebenher als Schlagersängerin auftritt, in "Gundula – Jahrgang 58" (1982), einen Buchhändler aus Wernigerode im Harz, der sich für die Künstlerszene in seiner Heimat engagiert, in "Das Zünglein an der Wahrheit" (1987). Ausgehend von Fotos, die sie in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs zeigen – der eine von Goebbels mit Orden behängt, der andere verzweifelt nach einem Gefecht – beleuchtete "Zwei Deutsche" (1988) die unterschiedlichen Lebenswege eines Ost- und eines Westdeutschen. "Den Wind auf der Haut spüren" (1989) schildert, wie ein Querschnittgelähmter durch seine Kunst zurück ins Leben findet.
In ihrem gesamten Schaffen folgte Gitta Nickel in erster Linie dem Anliegen, die Protagonisten ihrer Filme selbst zu Wort kommen zu lassen und ein differenziertes Bild des Alltags der Menschen zu zeichnen: "Chronist meiner Zeit will ich sein, festhalten, was Bedeutsames, Erzählenswertes passiert". Dafür wählte sie ihre Protagonisten meist aus der arbeitenden Bevölkerung und die Themen aus den aktuell relevanten sozialen Herausforderungen, die sich den Menschen stellten. Stets interessierte sich Nickel für die gesellschaftlichen Prozesse, in denen die Menschen - ob Arbeiter oder Künstler - standen und wie sie diese erlebten und beeinflussten. Anstatt bloß über die Vernunft sollten die Zuschauer über Emotionen und ihnen vertraute Geschichten zur Identifikation und zum Verstehen gebracht werden. Dazu verbrachte sie viel Zeit mit den Protagonisten in deren Alltag und lernte sie kennen, um gesellschaftliche Vorgänge nicht von außerhalb, sondern aus der Innensicht darstellen zu können. Trotz ihres durchaus kritischen Blicks bewahrte sich Nickel eine hoffnungsvolle Haltung zu den gesellschaftlichen Realitäten in der DDR.
Ebenso sah sie Dokumentarfilmer in der Pflicht, Stellung zu den aufgeworfenen Fragen zu beziehen und statt nur zu beobachten, Prozesse auch aktiv mitzugestalten. Dementsprechend drehte sie in ihrer gesamten Arbeitszeit in der DDR im staatlichen Auftrag und als Teil der DEFA-Arbeitsgruppe "Effekt" Filme zur sozialistischen Wirtschaftsführung, die für Fortbildungslehrgänge genutzt wurden. Gitta Nickel verstand "Filme machen in allererster Linie [als] politische Arbeit".
Auch nach der Wende ließen sie die Schicksale der Menschen der ehemaligen DDR nicht los, und so folgten weitere dokumentarische Auseinandersetzungen mit den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen in den neuen Bundesländern. Als freie Regisseurin setzte sie dies ab 1990 vor allem in Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Fernsehsendern um, wie zum Beispiel in der zweiteiligen Reihe "Das war die DDR" (1993) sowie in "Jedes Jahr ist Heuwetter" (1997), "Klassefrauen" (1998) oder "Die da in der Platte – Geschichten aus Marzahn" (1999). Ihr letztes Porträt einer Werktätigen veröffentlichte sie 2004 mit "Gundula – Solo für eine Krankenschwester", worin sie die Geschichte der Protagonistin ihres Films von 1982 "Gundula – Jahrgang '58" weiterverfolgt.
Gitta Nickel war zweimal verheiratet. Sie lebte und arbeitete in Werder, Brandenburg, wo sie am 18. Dezember 2023 im Alter von 87 Jahren starb.
Autorin: Linda Simons
Dieser Text wurde im Rahmen des Masterstudiengangs "Filmkultur - Archivierung, Programmierung, Präsentation" erstellt, der von der Goethe-Universität Frankfurt am Main und dem Deutschen Filminstitut gemeinsam angeboten wird.