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Trotz oder gerade wegen ihrer offenen Tabubrüche und ihres umstrittenen Autors erlangte Michel Houellebecqs 1998 erschienene Gesellschaftsgroteske "Les Particules élémentaires" bereits kurz nach ihrer Veröffentlichung Kultstatus. Die Verfilmung des oft als "Skandalroman des ausgehenden 20. Jahrhunderts" titulierten Werks hat Oskar Roehler im Berlin der Jahrtausendwende angesiedelt:
Michael und Bruno sind Halbbrüder, wie sie verschiedener kaum sein könnten. Ihre Mutter Jane führte einst ein unbekümmertes Jetset-Leben – ihre Söhne wuchsen derweil getrennt voneinander bei den Großmüttern auf. Während der introvertierte und sexuell vollkommen desinteressierte Molekularbiologe Michael sich lieber um seine Genforschungen als um Frauen kümmert, ereignen sich Brunos "Kontakte" zum weiblichen Geschlecht zumeist im Kopf oder im Bordell.
Schließlich aber begegnen beide der Liebe ihres Lebens: Michael trifft seine ehemalige Schulfreundin Annabelle wieder, mit der ihn seit Kindesbeinen eine scheue Zuneigung verbindet. Bruno dagegen lernt in einem esoterischen Urlaubscamp Christiane kennen, mit der er endlich auch seine sexuellen Obsessionen ausleben kann. Doch das Glück scheint von kurzer Dauer – beide Frauen erkranken schwer. Bruno und Michael stehen vor einer ultimativen Entscheidung: altgewohnte Einsamkeit oder neuartige Zweisamkeit…
Quelle: 56. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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Michael hat über Jahre in Irland an einem Forschungsprojekt zur künstlichen Reproduktion von Menschen ohne sexuellen Kontakt gearbeitet. Nachdem aufgrund seiner Prognosen erste Tierversuche erfolgreich verlaufen sind, gibt er seinen gutdotierten Berliner Job bei Professor Fleißer („Der Wissensdrang ist die wichtigste Macht in der Welt“) auf, um auf die Grüne Insel zurückzukehren mit dem Ziel, die „rationale Gewissheit“ zu erlangen.
Bruno schlägt sich mit geradezu traumatischen Kindheitserlebnissen – und als Deutschlehrer mit miniberockten Schülerinnen – herum. Er flüchtet sich in rechtsradikales Gedankengut, findet aber auch beim geistesverwandten Verleger Sollers keinen Abnehmer für seine Schriften. Schon von Kleinigkeiten wie seinem schreienden Kind, das er mit Schlaftabletten ruhigstellt, genervt, sucht Bruno auch bei seinem ziemlich heruntergekommenen Vater vergeblich Hilfe. Als er einem Mädchen aus seinem Literaturkurs gefährlich nahekommt, erleidet Bruno einen Zusammenbruch – und landet in der psychiatrischen Klinik von Dr. Schäfer.
Als Michael der Umbettung des Grabes seiner Großmutter beiwohnt, das einem Straßenneubau weichen muss, besucht er die Mutter seiner Jugendfreundin Annabelle, welche – für ihn überraschend – immer noch ledig ist und im Elternhaus wohnt. Die beiden kommen sich erstmals richtig nahe. Dann stirbt Jane und an ihrem Totenbett in einer Hippie-Kommune flippt Bruno erneut völlig aus.
Während Michael das Angebot aus Irland annimmt, sucht Bruno sein Heil in einem esoterischen Feriencamp. Nachdem er zunächst bei Yogini abblitzt, findet er bei Christiane endlich eine verwandte Seele, mit der er auch, etwa bei Besuchen in Swinger-Clubs mit Lack & Leder, seine sexuellen Obsessionen ausleben kann.
Beide Halbbrüder scheinen endlich der Liebe ihres Lebens begegnet zu sein. Doch Annabelle wird schwanger und wird von ihrem Arzt gezwungen, Michaels Kind abzutreiben – ihr eigenes Leben ist in Gefahr. Michael reist umgehend nach Deutschland zurück, er wird seine ehemalige Schulfreundin heiraten und sie mit nach Irland nehmen. Bruno dagegen kann sich nicht entscheiden zwischen altgewohnter Einsamkeit und neuartiger Zweisamkeit, nachdem Christiane schwer erkrankt ist und lebenslang an den Rollstuhl gefesselt sein wird...
Oskar Roehler hat aus Michel Houllebecqs arktisch-unterkühltem, bizarr-pornographischen und zynisch-nihilistischen Skandalroman „Elementarteilchen“, der die Bindungsunfähigkeit der Menschen im 21. Jahrhundert zutiefst pessimistisch als ausweglos schildert, eine große melodramatische Geschichte um Einsamkeit, Älterwerden, Liebe und Sex gemacht, die gerade in ihrem Verständnis für die Protagonisten berührt, jedoch auf der großen Kinoleinwand ihre eher biedere TV-Ästhetik nicht verleugnen kann.
„Ich will dem Publikum Freude und Mut machen und auch ein bisschen Kraft geben“, so Oskar Roehler im Constantin-Presseheft. Er kann mit dem Pfund einer Klasse-Besetzung wuchern: Besonders Moritz Bleibtreu, mutig gegen den Strich besetzt, überzeugt als psychisch gestörter Bruno und wurde völlig zu Recht nach der Uraufführung auf der 56. Berlinale mit dem „Silbernen Bären“ als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet.
Pitt Herrmann