Stadt als Beute
Charmant verkracht
Michael Kohler, Frankfurter Rundschau, 23.06.2005
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn René Pollesch von seinen Darstellern verlangt, sich in eine Rolle einzufühlen. Denn nichts verabscheut Pollesch, der es auf den Studiobühnen des deutschen Stadttheaters zu einigem Renommee gebracht hat, mehr als die Seelenzergliederung des bürgerlichen Schauspiels. Entsprechend werden seine Stücke und Inszenierungen weniger von Figuren bevölkert als von Sprechmaschinen angetrieben. Ihr Schmieröl ist das zu poetisch-absurden Wortkaskaden verdichtete Rotwelsch von Marketing und Marktwirtschaft, in dem vor lauter Entfremdung die Sehnsucht nach dem menschlichen Fehler im System nur umso lauter tönt. Doch wie spricht man so etwas, wenn es im gleichen Singsang ewig weitergeht: "Da ist diese Stadt und die ist Beute. Und Standortmarketing wird auf menschliche Organismen übertragen... Und ich höre immer diese Durchsagen in mir, Beute! Wie auf einem Flughafen, und irgendein Gas souffliert mir was Unternehmerisches..."
Die Antwort darauf steht natürlich nicht im Kleinen Hey, der Fibel der Schauspielzöglinge, und vielleicht kommt sich Marlon (Richard Kropf) deswegen zunächst so vor, als wäre er im falschen Film. Er betritt die seltsame und seltsam anrührende Theaterwelt des René Pollesch als nachbesetztes Landei und versucht bei der ersten Leseprobe, sein Unverständnis durch übertriebenen Ausdruck zu verhehlen. Über so viel Ahnungslosigkeit kann ein urbanes Ensemble nur staunen, der sich selbst spielende Pollesch vertagt die Probe. Ein halber Tag bleibt Marlon, um zu begreifen, was es heißt, Beute der Berliner Stadt- und Szenelandschaft zu sein. Tatsächlich schickt ihn eine glückliche dramaturgische Fügung bald darauf durch eine lehrreiche Walpurgisnacht. Ungeduscht, geduzt und ausgebuht, dazu mit blutiger Nase und klaffender Gedächtnislücke betritt Marlon am nächsten Morgen die Theaterbühne. Und auch wenn wir es in der ersten Episode von "Stadt als Beute" nicht mehr sehen, ahnen wir doch, dass er jetzt reüssieren wird.
Mit "Stadt als Beute" rollt wieder einmal ein klassischer Omnibusfilm über unsere Leinwände. Die Regisseurinnen Irene von Alberti (Marlon-Episode), Miriam Dehne (Lizzy-Episode) und Esther Gronenborn (Ohboy-Episode) haben eine zwar nicht reale, aber doch sehr real erscheinende Probenszenerie zum Ausgangspunkt gewählt, um mit drei Geschichten aus dem Schauspielerleben daran anzuknüpfen. Jede von ihnen begleitet einen Darsteller aus dem Pollesch-Ensemble und eröffnet ihm dabei einen Fluchtweg aus den anti-naturalistischen Sprachgebäuden des geprobten Stücks. Eine Flucht, die allerdings direkt wieder zum Ursprung führt: In einer frappierenden Verkürzung der Stanislawski-Methode finden Marlon, Lizzy (Inga Busch) und Ohboy (David Scheller) durch die Erlebnisse einer Nacht zu einem tieferen Verständnis ihrer Rollen. Lizzy, die eine Prostituierte spielt, verschlägt es in ein Animierlokal, in dem ihr ein von Julia Hummer und Stipe Erceg dargestelltes Pärchen eine rauschhafte Menage à trois vorgaukelt - für die am Ende präsentierte Rechnung revanchiert sich Lizzy, indem sie sich an den biographischen Erzählungen der Beiden schadlos hält. Mit Ohboy betritt schließlich der Berliner Kiez die Szene. Der Sozialhilfeempfänger trinkt sich erst mächtig Mut an, um den glatten Oberflächen des Sony-Centers die Stirn zu bieten. Dann wird er in dessen Springbrunnen zum modernen Don Quichotte und vollwertigen Pollesch-Akteur getauft.
Ein wenig erstaunlich ist es schon, wie sehr sich die inhaltlich recht verschiedenen Geschichten stilistisch gleichen. Offenbar haben sich die Regisseurinnen stärker von der Theaterästhetik René Polleschs inspirieren lassen, als es für einen Backstage-Film notwendig gewesen wäre. "Stadt als Beute" ist eine Mixtur aus Selbsterfahrungskurs und Textarbeit, Großstadt-Pose und Hommage ans Theaterleben, wobei die Episoden weniger einen eigenen Rhythmus entwickeln als den der Pollesch-Stücke aufnehmen. Sie wirken wie die kleinen Zwischenspiele, die dieser in seine Inszenierungen einzubauen pflegt und in denen seine aus der Rolle fallenden Schauspieler für einige Augenblicke wie Menschendarsteller erscheinen - leicht derangiert zwar, aber immerhin. Und so ist von Alberti, Dehne und Gronenborn etwas gelungen, was nicht gering zu schätzen ist: Nämlich den verkrachten Charme eines Pollesch-Abends auf die Leinwand zu übertragen.
© Michael Kohler