Weisse Raben - Alptraum Tschetschenien
Weiße Raben – Albtraum Tschetschenien
Ralf Schenk, film-dienst, Nr. 22, 2005
In Tamara Trampes und Johann Feindts "Weiße Raben" spiegelt sich der Krieg weitgehend indirekt. Nicht die erbarmungslosen Gefechte zwischen Russen und Tschetschenen, die Attacken aus dem Hinterhalt oder die Gemetzel an den unsichtbaren Fronten sind sein Thema, sondern deren Spuren an den Körpern und in den Seelen junger russischer Soldaten. Sie kehren, wenn überhaupt, mit einem Gepäck aus Angst, Albträumen und Gewaltfantasien zurück. Sie suchen zu verdrängen, flüchten sich ins Schweigen und werden doch immer wieder auf sich selbst und ihre desaströsen Erfahrungen zurückgeworfen. Die Eltern stehen hilflos daneben, der Staat kümmert sich kaum um sie, der weitere Lebensweg führt nicht selten in Psychiatrie und Gefängnisse. Für all dies haben die Regisseure in mehrjähriger Recherche- und Dreharbeit Beispiele gefunden.
"Weiße Raben" ist dramaturgisch als Montage emotionaler Konfrontationen aufgebaut. Er beginnt mit Farbaufnahmen einer friedlichen Wiesenlandschaft, in der ein Mann nach Blumen sucht, fährt sogleich aber mit schwarzweißen Szenen von Soldaten fort, die dreck-verschmiert auf einen Lastwagen klettern und ihre Angst vor Heckenschützen artikulieren. Der Mann aus den Eröffnungsbildern erweist sich später als Veteran des Afghanistankrieges. Noch Jahrzehnte nach seinem Einsatz bedrängen ihn die Erlebnisse von damals: Die von ihm als Albtraum geschilderte Episode, in der er den Skalp einer Frau in seinen Händen hält, stellt sich nach und nach als tatsächlich erlebter Vorgang heraus. Diese Kontrastmontage kulminiert in der Figur des Ex-Soldaten Petja: Den Filmemachern standen hier unter anderem Szenen von der heiter gelösten familiären Abschiedsparty vor seinem Kriegseinsatz zur Verfügung. Montiert sind sie mit Bildern dessen, was danach geschah: Petja verlor in Tschetschenien ein Bein und musste mühsam wieder gehen lernen. Die einstigen Sätze der Mutter ("Wir wollen stolz auf Euch sein") oder eine Äußerung des Vaters ("Die Armee macht Männer aus den Jungs") werden durch eine Kamerafahrt hinter Petjas Rollstuhl auf einem Gang der Klinik konterkariert. Später sieht man den Jungen zuhause, aufgedunsen vom Alkohol, mit Computerspielen befasst, während sich die Spuren seines Schicksals, die Sorge und Hoffnungslosigkeit über seine Zukunft, auch auf den Gesichtern der Eltern eingegraben haben.
Große emotionale Kraft beweist der Film auch dann, wenn er aus seinem Material einzelne Motive heraushebt, die beim schnellen Betrachten der Bilder unterzugehen drohen. Das beginnt schon mit der Eröffnungssequenz: Als einer der auf den Lastwagen kletternden Soldaten gefragt wird, ob er getötet habe, schüttelt er wie abwesend den Kopf, antwortet leise: Nein. Ein anderer kommentiert: Er versteht nichts. Der Krieg hat aus ihm einen an Seele und Geist erkrankten Menschen gemacht. Wenig später fährt die Kamera mit einem Panzerwagenkonvoi durch das zerschossene Grosny, eine Ruinenstadt. Nahezu an den Beginn des Films gestellt, teilt diese Sequenz dem Zuschauer physisch erfahrbar mit, welche ersten Eindrücke jeder Neuankömmling von der tschetschenischen Hauptstadt erhält. Am Ende der langen Fahrt erfasst das Kameraauge zwei tschetschenische Frauen; eine bedeckt ihr Gesicht mit der Hand, es ist ein Bild der Verzweiflung, das durch Zeitlupe verzögert und schließlich ganz eingefroren wird.
Drei Themenkomplexe stehen außerhalb der Porträts junger Soldaten – und gehören doch wesentlich zur Gesamtkomposition des Films, zur Vertiefung und Erweiterung des Themas. Vom Afghanistan-Veteran war schon die Rede: Er bringt Gedanken über die Unmöglichkeit des Vergessens ein. Ein zweiter Erzählstrang beschäftigt sich mit dem Wirken des Komitees russischer Soldatenmütter, das sich als einzige Institution mit bescheidenen Mitteln um Betreuung und Reintegration kümmert. Die dritte "Abzweigung" führt schließlich zu einem Material, das die Regisseure im Internet fanden: Zu sehen ist, wie brutal und entwürdigend eine russische Einheit mit tschetschenischen Gefangenen umgeht. Unter den Männern, die teils nackt aus einem Lastwagen gezogen werben – das sind Motive, die durchaus mit Bildern von Auschwitz verglichen werden können – , befinden sich zwei Frauen. Der Film hebt ihre Gesichter hervor, ermöglicht durch die Fixierung im Foto den Blick in ihre Augen. Niemand weiß, was aus ihnen geworden ist.
Dieses Material trägt wesentlich dazu bei, dass die Soldaten nicht nur als Opfer gesehen werden – sie waren auch Täter. Ob zum Einsatz gezwungen oder nicht: Sie unterwarfen sich den Regeln dieses schmutzigen Krieges, fügten sich ein, beteiligten sich. Diese Opfer-Täter-Dialektik wollten die Filmemacher bei allem Mitleid nicht vergessen.
Ein eindringliches Werk, dessen Kraft nicht zuletzt auf dem Vertrauen zwischen den Filmemachern und ihren Protagonisten basiert. Nur zwei Sequenzen stören: Auf die Frage Petjas, ob er denn wirklich über die schrecklichen Dinge reden müsste, antwortet Tamara Trampe im Off: Du musst, sonst gehen noch mehr Jungen freiwillig nach Tschetschenien. Und am Schluss tritt die Regisseurin vor die Kamera, reicht dem wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen verurteilten Ex-Soldaten Kiril die Hand und sucht nach tröstenden Worten. Diese Sätze und Gesten der Betroffenheit und Anteilnahme, so echt und dem konkreten Moment geschuldet sie auch sein mögen, wirkt im ersten Fall didaktisch, im zweiten berühren sie unangenehm. Vielleicht war der Abschiedsauftritt der Regisseurin im Gefängnis ja nötig, um den Epilog des Films, den nochmaligen und umfassenderen Einsatz des Materials der Gefangenenmisshandlungen, noch stärker wirken zu lassen. Auch der gesamte Schlusskomplex entspricht so dem Grundmuster der emotionalen Konfrontation. Dennoch scheint das Vor-die-Kamera-Treten unnötig, weil aus dem gesamten Film eine tiefe Trauer über verlorene Leben und ein äußerst starkes persönliches Engagement spricht.