Der Himmel über Berlin
Niederauffahrt zu den Menschen
Wolfram Schütte, Frankfurter Rundschau, 29.10.1987
Am Abend zuvor, zufällig in einem Dritten Fernsehprogramm, den Schluß des letzten Erzählteils von Fassbinders "Berlin Alexanderplatz". Wie Franz Bieberkopf den Tod Miezes hinnimmt: lachend, grauenhaft lachend! Verzweifelter hat keiner je gelacht, glücklicher keiner: weil sie ihn eben nicht verlassen hatte, weil sie ihm "nur" genommen wurde und ihn also bis in den Tod hinein geliebt hat.
Welche irrwitzigen Abgründe in einem Charakter, welche Verwerfungen auf einer Physiognomie (Günter Lamprechts) – und wie hat RWF diesen massigen Körper in den Raum gestellt, ganz in diese Ferne, und wie die Stimmen der Schygulla und der Mira, wie ihre Gesichter mit der Musik Peer Rabens enggeführt! Das hat man im deutschen Film seither nicht mehr gesehen; ein Augen-Blick auf den späten Fassbinder, und wir wissen wieder, wer und wie er uns fehlt: dieser Menschen-Darsteller!
Aber, Halt! Fassbinder hat in seinem ganz eigenwilligen "Berlin Alexanderplatz" die Menschen freigeschaufelt und ausgegraben, die Alfred Döblin wie Stimmen und Zeilen in die Text-Partitur seiner babylonischen Stadt-Beschreibung versenkt hatte. Die Stadt selbst als architektonisches Ensemble hat Fassbinder, der Kammerspielregisseur, aus guten (historischen) Gründen gemieden.
Aber Wim Wenders, der uns schon "Alice in den Städten" des Ruhrgebiets zeigte, Wilhelm Meister die Rheinberge hinaufwandern und Bruno Ganz auf der Suche nach dem "Amerikanischen Freund" in einem aus Hamburg und Paris zusammenmontierten Megalopolis untertauchen ließ: genau dieser road-movie-Reisende hat uns nun ganz unerwartet sein "Berlin Alexanderplatz" vorgelegt.
Seit Ruttmanns "Symphonie einer Großstadt" ist dieser Wendersche "Himmel über Berlin" die großartigste optisch-akustische Beschwörung nicht allein Berlins, sondern der modernen Metropole schlechthin.
Es mußte Berlin sein, weil es für den in Düsseldorf geborenen, zeitweise in München, Paris, New York, San Francisco und Los Angeles lebenden Wenders "ein historischer Ort der Wahrheit" ist. Seine Besuche, die er der Stadt seit zwanzig Jahren immer wieder abgestattet hatte, sagt Wenders, "sind für mich die einzig wahren "Deutschlanderlebnisse", weil hier jene Geschichte noch physisch und emotional gegenwärtig ist, die sonstwo in "Deutschland", nämlich in der Bundesrepublik, immer nur als Verleugnung oder Abwesenheit erlebt werden konnte bzw. vermißt werden mußte".
Die ehemalige Reichshauptstadt, die wirklich einzige Metropole und Weltstadt in Deutschland, das Trümmer-Berlin, das geteilte Berlin an der Nahtstelle zwischen den politischen Welthälften, das Kreuzberger Berlin und das Ost-Berlin, das der Prachtstraßen und Avenuen, der Gestapokeller und der Ruinen (Anhalter Bahnhof), von Siegessäule und Mauer, Stadtautobahn und Punk-Schuppen, Neubauwohnungen und Europacenter, Gedächtniskirche und Reichstag: ein von historischen Zeugnissen übersätes Gegenwartsgelände, eine wüste illuminierte Schädelstätte der Geschichte, auf der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft phosphoriszieren.
Da treibt sich Wenders herum, hier läßt er den bewundernswerten, 77jährigen Henry Alekan wieder (wie schon im "Stand der Dinge") eine Kameraarbeit machen, deren Eleganz und Fluidität, deren Zärtlichkeit und Strenge man nicht bemerkt im Fluge ihrer taktilen Beweglichkeit oder im Stillstand ihrer Beobachtungskraft. Dank Peter Przygodda (Schnitt) und Hartmut Eichgrün (Mischton) – die beide dafür einen Bundesfilmpreis verdient haben, wenn es noch mit rechten Dingen zugeht – ist Wenders so etwas wie ein cinematographisches Wunder geglückt: ein Film von verschwenderischem Reichtum in vollendeter Anmut, ein Stück epischer Erzählphantasie zusammen mit dem Filigran ineinander verwobener Stimmen, sich überlagernder Geräusche. Eben dadurch setzt einzig Wenders des späten Fassbinders polyphones Universum der Töne auf seine Art fort.
Gewiß ist der "Himmel über Berlin" ein großes Zeugnis der Rückkehr; ob es auch, wie bei seinem ewigen Freund und Mit-Drehbuchautor Peter Handke, eine Heimkehr ist – : das sei dahingestellt. Eher hat sich Wenders, der Amerika-Süchtige und Amerika-Müde, im Lauf der Zeit, der er sein bisheriges Oeuvre abgewann, von "Paris, Texas" nun dem Land der Väter und der Muttersprache wieder zugewandt.
Ob das ganz freiwillig geschah, weiß ich nicht; denn sein großes Projekt, rund um den Erdball zu drehen, ließ sich erst einmal nicht realisieren; ob er schließlich in Berlin gestrandet ist oder dort bewußt vor Anker ging, mag also ungewiß bleiben. Gewiß jedoch: daß diesem Aufenthalt unser Kino ein unerwartetes Geschenk verdankt.
Für diesen "Himmel über Berlin" war Wenders reif, nachdem er sich über Jahre hin am Kino-Mythos Hollywood, an der Leinwand-Utopie des epischen Films der USA abgearbeitet hatte: mit dem "trotz alledem" realisierten "Hammet", mit dem denkwürdigen Epitaph auf seinen geistigen und künstlerischen Vater Nick Ray ("Lightning over water") und schließlich mit der meisterlich ausgeführten Imitation of Life des großen amerikanischen Kinos in "Paris, Texas".
Der Freund Peter Handke ist früher aus dem US-Traum aufgewacht; seine "Langsame Heimkehr" (1979) fand schon statt, als Wenders noch im Aufbruch war. Nun sind die beiden, die sich schon zu Wenders" Spielfilmdebüt "Die Angst des Tormanns vor dem Elfmeter" zusammenfanden, wieder auf einem poetischen Punkt angelangt, während Peter Handke unbeirrt seinen eigenen Weg weitergehend, in diesem Herbst mit "Die Abwesenheit" ein Kunst-Märchen vorlegt, ist Wenders (zusammen mit seinem Drehbuch-Co-Autor Handke) ebenfalls mit einem Film-Märchen präsent.
Wer einmal die Geschichte ihrer beider künstlerischen Entwicklungen schreiben wird, dürfte auf zahlreiche offenkundige, bis in intimste Details reichende Parallelen stoßen: vor allem aber auch auf die dominante Rolle, welche Kinder, Kindlichkeit als Sehnsucht oder der "kindliche Blick" als Fokus der Welt in ihren Oeuvres spielt. Ein romantischer Topos.
Als er sich auf die Hölle Berlin einließ, versicherte sich Wenders eines leitmotivisch wiederholten "Kinderlieds" Peter Handkes, und es gehört zu den gleich einnehmenden, "bezaubernden" ersten Augenblicken seines Films, daß wir sehen, wie allein die Kinder, z. B. zwei Pakistani in einem Bus, die Engel (oben auf der Gedächtniskirche) sehen; es werden später fast Säuglinge sein, die ihre Augen auf die Unsichtbaren richten, oder zwischen Kindern und Engeln werden Lächeln-Brücken geschlagen – ohne daß die stumpfe Erwachsenen-Welt das bemerkt.
Schon mit seinem Anfang gewinnt Wenders: der erste Auftritt seiner Engel, die sich, in einem Mercedes-Coupé eines Autosalons sitzend, das Leporello-Register ihrer Wahrnehmungen mitteilen – Wahrnehmungen abweichenden, eigensinnigen menschlichen Verhaltens. Eine Sammlung poetischer Augenblicke, staunenswerte Zeugnisse romantischer Epiphanien im bürgerlichen Alltag, wider die Konformität.
Damiel (Bruno Ganz) und Cassiel (Otto Sander), im winterlich-kalten Berlin mit Schal und langen Mänteln bekleidet, in deren Taschen sie ihre Hände versenken, beobachten und begleiten, beäugen und beträuen Menschen – meist einsame, verlassene, kranke, alte; aber auch lesende und studierende in der großen Bibliothek, dem "Gedächtnis der Welt" (Resnais), wo sich – versteckte Hommage an den Bücherliebhaber Truffaut – besonders viele Schutz(Engel) aufhalten.
Dorthin kommt auch der alte (blinde?) Homer – der wunderbar tapfere Curt Bois – , den Cassiel auf einen versteppten Platz begleitet, wo er in einem (surrealistisch) vorhandenen Clubsessel einer Vergangenheit nachträumt, in der er – der Erzähler, der Dichter – noch "gebraucht" wurde: (in der Vorkriegs-Zeit?)
Die Engel sehen nicht nur alles, sie hören auch die Gedanken der Menschen, in deren Nahe sie kommen, denen sie – in herzbewegenden Szenen – begütigend die Hand auf die Schulter legen, denen sie wie Lehrer ihren Schülern, über die Schulter sehen.
Wenders" "Himmel über Berlin" ist erfüllt von solchen Zärtlichkeitsgesten, stummen Dialogen der Anteilnahme, der Zuneigung und der Liebe; aber die Engel können nicht eingreifen in das Leben der Menschen, denen sie zusehen.
Diese Passivität ist es, die Damiel – Bruno Ganz in großer, schöner, stiller Verhaltenheit – zunehmend beunruhigt; vor allem nachdem er sich in die einsame Artistin in der Zirkuskuppel eines gerade pleite gegangenen Zirkus" verliebt hat. Der ewigen Kontemplation der "geistigen Existenz" eines Engels zieht er das riskante Abenteuer, ein sterblicher Mensch zu sein, schließlich vor. Ist er doch, auf seinen weiten Streifzügen durch den Berliner Alltag mit seinen Mühen und Sorgen zuletzt bei dem gerade eingeflogenen Peter Falk gelandet, einem Schauspieler in einem Film, der während der Nazi-Zeit spielt. Der einäugige "Colombo"-Darsteller wird es sein, der dem unsichtbaren "companiero" die Hand entgegenstreckt: zum lockenden Übertritt ins Leben; denn er selbst – wird Damiel später erfahren, wenn er ihm "in Wirklichkeit" gegenübertritt – war auch einmal ein Engel, der sich jedoch für das sinnliche Glück (einen Kaffee z. B., eine Zigarette und das Reiben der kalten Hände) entschied; ins Leben mit dem Tod hatte er sich fallen gelassen.
Durch Peter Falk hat Wenders seinem Œuvre den bislang fehlenden Humor hinzugewonnen, Ironie und Warmherzigkeit; im kleinen Universum seines symbolistischen Märchens fehlt jetzt nur noch die "Prinzessin", die der Prinz Damiel sucht: es ist Solveig Dommartin, die Lebensgefährtin des Regisseurs. Im Traum hat sie den Engel, der ihretwegen zum Menschen wurde, einmal erblickt; sie bleibt nach der Auflösung des Zirkus in Berlin, weil sie den Traum-Mann erwartet, während er, aus der chamoixhaften Schwarz-Weiß-Welt der Engel in die farbige Realität der Menschen geworfen, sich auf die Suche nach seiner Liebe begibt. Sie werden sich an einer Bar "begegnen" – und die Frau wird dem Mann ein Geständnis machen über ihr bisheriges Leben und die Utopie ihres künftigen.
Es wäre unaufrichtig, wenn ich verschwiege, daß mir die Liebesgeschichte zwar als Idee schlüssig, jedoch als dargestelltes Schau-Spiel mißglückt erscheint. Da kippt mir der "Hohe Ton", den Wenders sich von Handke hat vor- und verschreiben lassen, in verstiegenen Schwulst um, in reichlich merkwürdige Knabenphantasien, in deren schiefer Emphase noch frühe erotische Verklemmtheiten nachwirken. Auch in eroticis mit dem anderen Geschlecht sind sich Wenders und Handke sehr nahe. (Aber vielleicht gehört die flaue Sehnsucht nach dem Erotischen substantiell zur symbolistischen Ästhetik, wer weiß?)
Wenn mir auch die Apotheose dieser "Niederauffahrt" der Engel zu den Menschen zu blaß bleibt, so bleicht sie doch nicht aus: den ungemein warmherzigen Charme des Films, die außerordentliche künstlerische Balance, mit der Wenders alle Mittel und Handwerksfertigkeiten seines Metiers mit einer atemberaubenden Souveränität, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, ins Spiel bringt. Dieser "Himmel über Berlin" ist ein ebenso einfaches, ja "kindliches" Märchen wie ein mit allen Wassern der Ironie gewaschenes, mit allen Tonarten des Gefühls instrumentiertes komplexes Kunst-Stück; heiter und hintergründig. Es steckt voller schönster, augenzwinkernder und herzergreifender Allusionen; kaum ausschöpfbar ist der polyvalente Reichtum dieses lyrisch-epischen Erzählens: von der großen Stadt Berlin, der katastrophalen deutschen Geschichte, von mitfühlenden aber hilflosen Engeln und der Liebe, die sie zu Menschen werden läßt, um an unserem Leben (und Tod) teilzuhaben.
Wim Wenders, vor die Wahl gestellt, sich entweder für die Kunst oder für die Menschen zu entscheiden, hat sich für eine Kunst entschieden, welche die Menschen liebt. Gegen die Ewigkeit und für die Zeitlichkeit, gegen die passive Kontemplation und für die aktive (An)Teilnahme. "Der Himmel über Berlin": das ist die Ankunft eines, der lange abwesend war.