Der Himmel über Berlin
Der Himmel über Berlin
Karlheinz Oplustil, epd Film, Nr. 11, November 1987
Diffuses Licht in einem Wolkenmeer, ein Auge öffnet sich, einer blickt auf die Stadt hinab, und der weiche Schlag eines Flügels.
Stimmen auf der Straße und in einem Flugzeug hoch am Himmel. Eine weit ausholende Bewegung über der Stadt, am Funkturm vorbei, über die Stadtautobahn auf die Häuser Charlottenburgs zu, durch ein Fenster hindurch ins Innere der Wohnungen. Dann viele Stimmen in vielen Räumen, ein Stimmengewirr, die Gedanken von Schweigenden, hörbar gemacht durch eine Wahrnehmung, über die der Mensch nicht verfügt.
Phantome über Berlin; schwerelose und unsichtbare Wesen, Engel, denen alle Orte der Stadt zugänglich sind und alle Gedanken verständlich.
So wundersam sich dieser Anfang in der aktuellen Filmproduktion ausnimmt, so überraschend ist er auch im Werk von Wim Wenders. Zehn Jahre sind es her – seit "Der Amerikanische Freund" –, dass Wenders zuletzt in Deutschland gedreht hat. Jetzt hat er einen Film in und über Berlin gemacht. Das ist sicher eine Art Rückkehr für einen Regisseur, bei dem es immer um Reisen und Irrfahrten, um die Sehnsucht nach anderen Orten und einem anderen Leben gegangen ist. "Langsame Heimkehr" , seinen lange vorbereiteten Film nach den Buchvorlagen von Peter Handke, hat Wenders aus finanziellen Gründen nicht realisieren können. Nun hat er, auf unerwartete Weise eine autobiographische Thematik unterlaufend, doch das Ende seiner Abwesenheit mit einem Film gefeiert, zu dem man der Stadt, in der er gedreht wurde, nur gratulieren kann: der Film ist ein Fest.
"Der Himmel über Berlin" ist zuerst ein Stadt-Film mit aufregend schön aufgenommenen und montierten Ansichten Berlins: fremdartige Stadtlandschaften in Totalen oder im Aufblick aus dem Hubschrauber heraus, eine Antwort auf Walter Ruttmanns "Berlin, die Sinfonie der Grosstadt", städtische Geheimnisse entdeckend wie Jacques Rivettes "Paris nous appartient" oder Jean-Luc Godards "Alphaville": Berlin sei wirklicher als andere Städte, meint Wim Wenders. Er filmt die Stadt vorzugsweise in den Lücken, die die Planung gelassen hat, und zeigt sie als großes Terrain vague, wo doch ihre Geschichte gegenwärtig ist.
Die beiden Engel Cassiel (Otto Sander) und Damiel (Bruno Ganz), offenbar ohne rechte Beschäftigung, treiben sich ziellos in der Stadt herum, machen Beobachtungen, manchmal trösten sie Leidende, mit sanften Berührungen: einen Verzweifelten in der U-Bahn, einen Sterbenden an der Langenscheidtbrücke. Wie die Engel gerät die Kamera des großen Franzosen Henri Alekan bei diesen Streifzügen durch die Stadt in ein schwereloses Schweben, nicht nur wenn sie im Hubschrauber am Himmel fliegt, auch wenn sie auf den Straßen oder in Innenräumen dahingleitet, besonders eindrucksvoll in der Staatsbibliothek, die hier Versammlungsort der Engel ist.
In den Filmen von Wim Wenders gab es bisher immer ein Nacheinander von Orten im Verlauf der Reisen seiner Helden. Das ist hier ganz anders, der Film versucht sozusagen, alle Orte einer Stadt gleichzeitig zu zeigen. Zunächst scheint es, als ob die Engel, die sich frei in Raum und Zeit bewegen können, nur ein Kunstgriff wären, ein MacGuffin, um die radikale Auflösung einer filmischen Ich-Geschichte, die Aufgabe eines erzählerischen Mittelpunktes zu rechtfertigen. Aber dann entstehen aus ihren Begegnungen miteinander und mit den Menschen doch wieder einzelne Geschichten: die Geschichten des Engels Damiel, der seiner rein geistigen Existenz überdrüssig wird, die eines amerikanischen Schauspielers, der sich als früherer Engel herausstellt (Peter Falk), und die Liebesgeschichte Damiels mit Marion, der Trapezkünstlerin in einem pleitegegangenen Zirkus (Solveig Dommartin). Es gibt noch den mit den Geschichten nicht verbundenen Erzähler (Curt Bois), "den an den Weltrand verschlagenen, kindlichen Uralten". Und es gibt ein Gedicht, das immer wieder aufgenommen wird: "Als das Kind Kind war ..." Die Engel, "Ungeborene" und zeitlos existierend, waren nie Kind, doch ihr Blick ähnelt dem der Kinder, weil die Ordnungen der Welt für sie nicht gelten: "alles war ihm beseelt, und alle Seelen waren eins." Allein die Kinder unter den Menschen können die Engel sehen, und wie den Engeln ist ihnen noch alles gleich wichtig.
Den Blick der Engel übernimmt die Kamera in schwarzweißen Bildern. Mit der Freiheit von Raum und Zeit spielend, findet Wenders eine Form seines Films, in der mühelos Platz ist für den Singsang von Kinderreimen und für die Hochsprache der Geister, für meditative Bilder und überstürzende Montagen, für Dokumentaraufnahmen, Traumvisionen und die alten Zaubertricks des Kinos, für Rockstücke und Zirkusnummern, wie für einen Ausflug in die Zeit des Urstromtales ("Beim Zurückgehen fühlte ich an der leicht abschüssigen Langenscheidtstraße das Spülen des Vorzeitwassers nach; eine linde und klare Empfindung", heißt es in Peter Handkes "Lehre der Sainte-Victoire"). Ein Film zum Schauen und Staunen wie im Zirkus. Oder, wovon der "Erzähler" spricht; eine Liturgie, bei der niemand eingeweiht zu werden braucht, wie die Wörter und Bilder gemeint sind.
Wenn Damiel aus Liebe zu Marion – die am Trapez nur beinah wie ein Engel fliegen kann – die Unsterblichkeit aufgibt, will er sich "selber eine Geschichte erstreiten". Er entscheidet sich für die Begrenztheit der menschlichen Existenz, an deren Anfang die Kindheit steht und an deren Ende der Tod. Der Film bekommt jetzt eine andere Form: die Bilder werden farbig. Der Lauf der Zeit: das ist jetzt die Dimension, die den Sterblichen zukommt. Was die Engel an menschlichen Glücksmomenten beschworen hatten – "Es wäre doch schon etwas, beim Nachhausekommen nach einem langen Tag wie Philip Marlowe die Katze zu füttern, Fieber haben, schwarze Finger vom Zeitunglesen ..." – , das hat der Film dann schon eingelöst: er sprach vom Offenwerden der Welt. Die Liebe zwischen Damiel und Marion kann "eine Geschichte von Riesen" sein. Am Ende schreibt Damiel auf: "Ich weiß jetzt, was kein Engel weiß."
Wim Wenders hat seinen Film "den früheren Engeln" gewidmet: Yasujiro (Ozu), Francois (Truffaut) und Andrej (Tarkowskij).