Lichter
Die Brücken am Fluss
Daniel Kothenschulte, Frankfurter Rundschau, 31.07.2003
Im Jahre 1916 kam der Regisseur D.W. Griffith auf eine tolle Idee. Warum nicht drei Geschichten, obgleich in verschiedenen Epochen angesiedelt, parallel erzählen? "Intolerance" hieß dieser erste moderne "Packagefilm", der wie ein Mehrmanegenzirkus funktioniert: Spannungsbögen werden analog verschaltet, zum Höhepunkt tun sich überraschende Kohärenzen auf. Nun, Publikum und Kritik zeigten sich intolerant gegenüber "Intolerance". Ob sie geahnt hatten, dass hier der böse Geist der Soap Opera vierzig Jahre vor seiner endgültigen Befreiung durch das Fernsehen schon einmal über den Tellerpfand hinaus blicken durfte? Resigniert brachte Griffith das Material noch einmal konventionell in drei Einzelfilmen heraus.
Bis in die frühen 90er führte die reizvolle Filmform ein Schattendasein. Dann brachte sie der große Robert Altman mit "The Player" zu neuen Ehren. Und ein gewisser Quentin Tarantino knotete bei "Pulp Fiction" zusätzlich noch ein wenig an den Schleifen der Zeit herum. Seither ist diese Spielart des Episodenfilms, von den Machern gern Ensemblefilm genannt (obwohl es ja gar kein Ensemble dabei gibt, das miteinander agierte, sondern nur viele Kurzfilm-Hauptfiguren) ein Modegenre geworden.
Wie alle Künste aber ist sie schwierig und einfach zugleich: Schwierig, wenn man es gut machen will, einfach, wenn man damit zufrieden ist, mehrere schwache Geschichten über einen Abend zu retten. Ein Musterbeispiel der zweiten Kategorie haben Sie wahrscheinlich gerade glücklich im Kino verpasst, Max Färberböcks "September". "Lichter" von Hans-Christian Schmid hingegen erfüllt, was sich schon der alte Griffith von seinem ambitionierten Kinostück erhoffte: Aus kunstvollen Details ergibt sich keine bloße Assemblage, sondern ein großes Panorama, das sich dann zu Recht ein Zeitbild nennen darf.
Man wunderte sich nicht über diesen Film, dem Triumph der letzten Berlinale, wenn man Schmids bisherige Karriere verfolgt hatte. Wie seine erfolgreichste Kommilitonin an der Münchner Filmhochschule, Caroline Link, besuchte Schmid die Dokumentarfilmklasse. Der so gewonnene Blick für eine im deutschen Film der frühen 90er fast verschwundene soziale Wirklichkeit gab seinem Debüt "Nach fünf in Urwald" eine Qualität, die weit über das Feel-Good-Movie hinaus wies. Kein anderer deutscher Regisseur erreicht derzeit Darstellerleistungen wie Schmid. Es gibt eine Szene in "Lichter", diesem Quintett von fünf mehr oder minder traurigen Geschichten von der deutsch-polnischen Grenze, die einem die Tränen in die Augen treibt, einfach nur weil sie so gut geschrieben und gespielt ist.
Da hat ein glückloser Kleinunternehmer aus dem Westen (Devid Striesow) gerade alles verloren bei der Pleite seines Matratzenladens. Einen Orden für den Aufschwung Ost hätte er mit dem hässlichen Geschäft ohnehin nie bekommen, aber als er seine vom Lieferanten einkassierte Ware in fremden Händen sieht, bricht alles über ihm zusammen. Das wäre noch keine bewegende Szene, würde dieser befreiende emotionale Ausbruch nicht von einer Leidensgefährtin überraschend aufgefangen. Eine eben erst angeheuerte, nun bereits arbeitslose Mitarbeiterin, ist im rechten Augenblick zur Stelle, gemeinsam heult man wie die Schlosshunde, und auch wenn die Leinwand gleich darauf längst wieder einer anderen Geschichte gehört, ist man noch lange in Gedanken bei diesem denkbar glamour-fernen Liebespaar.
Wie all seine bisherigen Spielfilme hat Schmid auch "Lichter" gemeinsam mit Michael Gutmann geschrieben. Ihre Drehbücher sind verlegt, das neueste ist gerade im Verlag der Autoren erschienen. Ihre Lektüre ersetzt jedes Drehbuchseminar. Aber gerade weil "Lichter" so kunstvoll geschrieben und inszeniert ist, weil es einer der wichtigsten deutschen Filme der letzten Jahre ist, sollte man nicht übersehen, was ihm zur Vollkommenheit fehlt. In den fünf parallel erzählten Geschichten vom Überlebenskampf zwischen Slubice und Frankfurt/ Oder, die allein in ihrer Bitterkeit zusammenfinden, gibt es für die Bildgestaltung nicht viel zu gewinnen.
Über Bogumil Godfrejows Kamera muss man zunächst einmal positiv vermerken, dass sich in ihr richtiges Filmmaterial bewegt. Die Digitaltechnik, die schon fast zu einem synonym für sozial engagiertes Schauspielerkino geworden war, befindet sich international auf dem Rückzug. Dennoch handhabt Godfrejow sein Werkzeug wie eine Videokamera; sie folgt den Figuren auf dem Fuß. Von den titelgebenden Lichtern gibt es wenige in den matt-trüben Impressionen, in denen selbst Sonnentage aussehen wie mit einer überalterten Einwegkamera geknipst.
Und man sollte sich vor der übermäßigen Nähe zu den Darstellern in acht nehmen wie vor dem Schreien auf dem Theater: Sie ist das äußerte Mittel der Intensivierung, aber wie sehr haben uns in der Vergangenheit schon Filme berührt, die sogar auf Großaufnahmen verzichteten. Das asiatische Kino lehrte mit Ozu, Mizogushi oder in jüngster Zeit mit Edward Yang, dass es der letzten Grenzüberschreitung, des visuellen fortissimo nicht bedarf, um äußerste Anteilnahme am Geschehen zu erwecken. In Hollywood haben die großen Schauspielerregisseure, George Cukor oder William Wyler - und Schmid darf getrost mit ihnen verglichen werden — ihren Protagonistlnnen stets eine geräumige Bühne geschaffen. Und dazu gehörte auch, ihnen nicht mit der Kamera auf die Poren zu rücken.
Wer Schmid einmal beim Drehen zugesehen hat, kann den Eindruck bekommen, eine Entlastung von allen Fragen der Auflösung und Bildgestaltung sei die Voraussetzung für die so intensive Schauspielerarbeit. Warum auch nicht? Wenn aber gleich der neugierige Gegenschuss auf den leidenden Helden zur Stelle ist – wie auf August Diehl, der in einer der stärksten Szenen als junger Architekt erkennen muss, dass sich seine polnische Exfreundin für seinen Chef prostituiert – wirkt dies in störender Weise indiskret.
Das zweite Versäumnis dieses großartigen Films ist die Filmmusik von Notwist. Zwar widerstand die Band der Versuchung eines Song-Soundtracks, doch ihre naiv-mollige Klangmalerei, die ohne einen einzigen musikalischen Einfall auskommt, geht nicht hinaus über einfachste Analogien. Schnell ist der Einwand zur Stelle, die vorzüglich gespielten Szenen brauchten keinen akustischen Fensterkitt. Aber gerade der beste Film gewinnt durch künstlerische Filmmusik noch einmal eine neue Dimension hinzu; es wäre schade, darauf zu verzichten.
Aber nichts für ungut: Schmid und Gutmann erzählen ihre Geschichten von der gutmeinenden und schließlich desillusionierten Fluchthelferin, dem ebenso bedauernswerten wie erbärmlichen Unternehmensgründer, dem karrieristischen Jungarchitekten, der hilflos dem Schicksal seiner Freundin gegenüber steht, ohne Scheu vor dem Vorurteil. Sie machen sich nicht die unnötige Mühe, weiträumig um Klischees herum zu manövrieren – und widerlegen sie doch alle. Ein Feel-Good-Movie wie "Nach fünf im Urwald ist" es nicht geworden, eher schon ein rechtes Feel-Bad-Movie.
Man bleibt nicht unberührt von seiner Wirkung. Dies gelingt Schmid allein durch die Differenziertheit seiner Figurenzeichnungen und das bruchlose Zusammenspiel von Darstellern aus drei Ländern, Profis oder Debütanten. Hüten wir uns nur vor dem letzten, dem hartnäckigsten Klischee des realistischen Kinos – der Handkamera.