Der blaue Engel
Der Blaue Engel
Siegfried Kracauer, Die Neue Rundschau, Nr. 6, Juni 1930
Immer wieder geschieht es, daß in der deutschen Öffentlichkeit eine ausgezeichnet gemachte Sache auftaucht, die nur den einen Fehler hat, daß sie keine Sache ist. Sie könnte nicht kunstvoller hergerichtet sein; aber ihre Ausstaffierung ist eine Staffage. Solche leeren Schaugepränge sind typisch für unsere heutige Öffentlichkeit. Es hat seinen verborgenen Grund, daß sich nichts hinter ihnen verbirgt.
Ein Musterbeispiel der gemeinten Substanzlosigkeit, das sich zu analysieren verlohnt, ist der in der Presse bejubelte Film: "Der blaue Engel". Er enthält Details, die nicht besser sein könnten, er ist mit unleugbarer Fertigkeit aufgebaut und geschnitten. Zugegeben, daß in dieser Spitzenleistung der Wechsel zwischen Sprechszenen und stummen Szenen diesen eine besondere, bisher noch kaum so eindringlich verwirklichte Gewalt zuerteilt; daß manche Auftritte – etwa der des Direktors im Klassenzimmer oder das Hochzeitsgelage – von außerordentlicher Sinnfälligkeit sind; daß Jannings mit komödiantischer Sicherheit den letzten Effekt herausholt, der sicher einen Effekt verspricht, und eine erfreuliche Übereinstimmung zwischen dem Sprechorgan Marlene Dietrichs und ihren schönen Beinen besteht. Dies alles zugegeben – aber wofür die Beine, die Effekte, die Technik, das Riesentheater?
Für eine Privattragödie, die in dieser Fassung und erst recht heute niemanden ernstlich etwas angeht. Nicht daß der Roman Heinrich Manns hier mißbraucht wird, ist entscheidend; sondern daß dieses Vorkriegsbuch überhaupt zur Unterlage gewählt worden ist. Welches Interesse hat die Filmproduzenten, denen ja auch Manns "Untertan" zur Verfügung gestanden hätte, gerade auf die dunkle Psyche Professor Unrats und seine Beziehungen zur Sängerin Lola hingelenkt? Eben dieses, daß der Vorwurf des aktuellen Interesses enträt, daß er mithin gar kein echter Vorwurf ist. Mag die Auslese der in der Öffentlichkeit dargebotenen Stoffe und Gestaltungen bewußt oder unbewußt vor sich gehen, jedenfalls zielt sie, wie der "blaue Engel" exemplarisch bezeugt, darauf ab, die Wirklichkeit vergessen zu machen, sie zu verhüllen. Das persönliche Schicksal Unrats ist nicht Selbstzweck, vielmehr: es ist nur ein Mittel zum Zweck der Wirklichkeitsflucht und gleicht darin der Malerei auf einem Theatervorhang, die das eigentliche Theaterstück vortäuschen soll. Leider merkt das Publikum nicht, daß der Vorhang nie hochgezogen wird.
Aber gibt es nicht nach dem Krieg so gut wie früher Einzelschicksale und Psychologie? Gewiß, und nichts verböte ihre rechtmäßige Darstellung. Nur ist es unserem Film keineswegs um die angemessene Entfaltung seines Themas zu tun. Griffe er es ungebrochen an, so müßten die Personen im gesellschaftlichen Raum stehen, ja, die sozialen Verhältnisse, die den Gymnasialprofessor und die Diseuse zusammenführen, müßten von selber in den Vordergrund rücken. Denn haben wir etwas ein für allemal aus der jüngsten Vergangenheit gelernt, so dies: daß die individuellen Abläufe, wo nicht bedingt, so doch mitbedingt sind von der jeweiligen ökonomischen und sozialen Situation. Der Film dagegen vermeidet mit einer Beflissenheit, die man schnaufen hört, jeden Hinweis, der uns zur Einbeziehung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Umwelt bewegen könnte. Er verdrängt die Umwelt, die sich dem naiven Betrachter der Katastrophe Unrats aufzudrängen hätte, er reißt die Spieler aus allen sozialen Abhängigkeiten heraus, in denen sie Aktualität gewönnen, und stellt sie ins Vakuum. Weder Unrat noch Lola haben Luft genug, um zu atmen. Womit die Feststellung erhärtet wäre, daß weniger die Wirklichkeit ihrer Existenzen dargetan, als die Existenz der Wirklichkeit verschleiert werden soll.
Es steht also gar nicht in Frage, was scheinbar erfragt ist. Aber mehr noch: diese nichtige Spiegelfechterei wird zu einem kolossalen Etwas aufgebauscht. Auch darin weicht der "blaue Engel" nicht von der Regel ab, die für die meisten öffentlichen Veranstaltungen bei uns gilt. Man sucht durch Monumentalarchitekturen die Illusion zu erwecken, daß der Gehalt, den sie fassen, ein Gehalt sei; man setzt vor Sachen, die nur Vorwände sind, dekorative Wände und behauptet, sie seien die Sache. Mit demselben Getöse, mit dem die Wilden böse Geister vertreiben, möchte man hierzulande böse Erkenntnisse ersticken, das heißt Erkenntnisse, die jene Wirklichkeit bewußt machen, vor der man flieht. Während in Wahrheit Professor Unrat lautlos zerbröckeln muß, geht er im Film lärmend unter. Die seelischen Vorgänge, die heute mehr denn je ins durchschaute Gehäuse gehören, werden nach außen gezerrt und mit Hilfe optischer und akustischer Großaufnahmen zu den Hauptereignissen der Oberfläche gestempelt. So hat es seine Richtigkeit; sollen die äußeren Bedingungen unseres Daseins aus dem Bewußtsein zurücktreten, dann muß freilich die Innerlichkeit die äußere Welt rauschend erfüllen und zur Prunkfassade anwachsen, hinter der das eigentliche Außen unbemerkt verschwinden kann. Ein umgestülpter Handschuh: die Innenseite wird zur Außenseite gemacht, damit diese unsichtbar wird, und Jannings darf so gewaltig krähen, wie er nur mag. Der Schein der verlorenen Innerlichkeit, die zu sonst nichts mehr gut wäre, taugt gerade noch zum Ersatz der äußeren Wirklichkeit.
Die Umkehr der Ordnung rächt sich zum Glück. Im Vergleich mit den breiten Schulszenen etwa stürzt Unrat viel zu plötzlich und sprunghaft in die Tiefe. Das kommt davon, wenn man seelisches Geschehen dekorativ verwenden möchte, seine Kontinuität läßt sich nicht überall hin mitnehmen. Auch das gierige Verlangen der gestellten Hafenstraße, lang nach dem Expressionismus noch Expression zu sein, ist verräterisch. Sie unterwirft sich freiwillig der psychischen Invasion, erniedrigt sich selbst zum Dekor. Und schließlich das Kreischen und Klirren, der Sadismus und das ganze Kriegsgetümmel am Ende: welch eine hoffnungslose Gleichung zwischen Radau und Bedeutung wird hier angesetzt! Aber der Aufwand an Radau ist allerdings erforderlich, um den Mangel an Bedeutung zu verdecken.
Die im "blauen Engel" durchgeführte Absicht, großartig über unsere Situation hinwegzubrausen und ihr derart zu entrinnen, ist ein Kennzeichen dieser Situation selber. Jenen Schichten, die heute das Gesicht der deutschen Öffentlichkeit bestimmen, bleibt kaum etwas anderes übrig, als die Wirklichkeit zu umnebeln. Sie haben den Angriffen aus dem gegnerischen Lager keine lebenskräftige Erkenntnis entgegenzustellen, sie befinden sich, wie ich in meinem Buch "Die Angestellten" nachgewiesen habe, ideologisch in der Verteidigungsposition. Darum dürfen sie es in ihrem eigenen Interesse auf eine offene Auseinandersetzung über die Grundlagen des Bestehenden nicht ankommen lassen. Wie die Gefahren einer solchen Auseinandersetzung beschworen werden, zeigt der Schulfall des "blauen Engels". Er zeigt auch, daß auf die Dauer alle Fluchtversuche vergeblich sind, da sie in eine gähnende Leere führen.
Siegfried Kracauer: Werke. Band 6. Kleine Schriften zum Film. Herausgegeben von Inka Mülder-Bach. Unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl. 3 Teilbände. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. Alle Rechte vorbehalten. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.