Nju
Nju
F.W.K., Film-Kurier, Nr. 276, 22.11.1924
"Nju" beschenkte uns mit drei wertvollen Gaben: Erstens einem neuen Regisseur, zweitens einem neuen Star, und drittens mit der Erkenntnis, daß es doch auch im Film Kammerfilme gibt, die einer großen Menge gefallen.
Der Regisseur Paul Czinner rückt mit diesem Film in die erste Reihe unserer Regisseure. Elisabeth Bergner, an sich durchaus nicht für den Film prädestiniert, erwies den Triumph des genialen Könnens über die Unwegsamkeit neuen Filmgeländes, und Jannings und Veidt bestärken ihren Ruf, unsere ersten Filmdarsteller zu sein – von neuem.
Die Dymowsche Geschichte dieser kleinen unverstandenen Frau, die aus dem ruhigen Wohlstand ihrer Ehe in ein gefährliches Abenteuer mit einem Dichter taumelt und, von diesem verlassen, die letzte Konsequenz ihres verfehlten Lebens zieht, ist vom Theater her genugsam bekannt. Niemand besser konnte ihre Filmwirksamkeit erkennen als ein Regisseur, der wie Czinner dieses Stück bereits so oft auf den Brettern inszenierte.
Nun nahm er das Stück und bearbeitete es für den Film. Mit unerhört feinen, sensiblen Fingerspitzen, die man in allen winzigen Kleinigkeiten innerhalb des Films verfolgen kann.
Nun baut sich diese Ehe vor uns auf mit erschreckender Realistik, mit minutiöser Wiedergabe unscheinbarster Details, mit einer Stimmungsmalerei wie selten zuvor. Dabei mit überraschender Prägnanz und Beschränkung auf das Wesentliche.
Da ist Jannings, der Gatte: ein menschgewordender Rülps, gutmütig, anständig, reich, übersättigt – im Affekt gewalttätig. Unerhört, wie er nach dem Balle sich an seiner Frau vergriffen hat und mit baumelnden Hosenträgern in die Speisekammer schlürft, um eine Flasche Bier herunterzustürzen und sich Stullen zu schneiden.
Und wie er angesichts des Entschlusses Njus, ihn zu verlassen, zusammenbricht, wie aus dem großen starken Mann, dem allen überlegenen Raffke, ein kleines, schluchzend zusammengeballtes Stückchen Mensch wird, das ist erschütternd.
Sie: Elisabeth Bergner. Ein kleines schutzloses, umherflatterndes Vögelchen, hilflos zerschellend an der Gemeinheit des Lebens. Gleich fassungslos vor der brutalen Gewalttätigkeit des einen wie vor dem kalten Zynismus des andern, des Geliebten, von dessen Bild sie auf dem Teppich des Zimmers den letzten Abschied nimmt. Das Spiel dieser gottbegnadeten Frau lebt und webt und schwebt über alles Unwirkliche hinweg – nie faßt es zu, immer umflattert es in subtilsten Regungen die schwersten Probleme, als wollte es sich niemals herantrauen an alles, was Entschluß heißt oder Tat. Die Hände, die Füße, der Nacken, die Schultern dieser Frau spielen in so unterhört vielfachen Nuancen, in so tausend glitzernden Lichter, in so sagenhaftem Schimmer, dass nur ein großes Erstaunen zurückbleibt – ein andächtiges Staunen ...
Conrad Veidt, der Dichter. Bisweilen verwischt ihm der Wille zur Dämonie, die Schranken zum rein Gesellschaftlichen, das immerhin dieser Dichter im Verkehr mit der Gesellschaft doch zur Schau tragen muß. Sonst aber leiht er dieser Gestalt wieder alles, was ihn uns liebenswert macht.
Da ist eine Szene, in der die durch die Schüsse alarmierten Hausbewohner in den Salon geführt werden, in dem die drei, notdürftig gesammelt, inmitten des Aufruhrs ihrer Gefühle sich jüdische Witze erzählen, um die Nachbarn zu beruhigen. Das ist eine Szene aus dem Grand Guignol – von einer unerreichten Filmwirksamkeit.
Ob dieser Film ein großer Geschäftsfilm wird, ist schwer zu entscheiden. Den Amerikanern wird er nicht gefallen, weil die Bergner nichts von der konventionellen, geforderten Schönheit der amerikanischen Stars hat.
Den Engländern wird – vielleicht – die Behandlung des Themas zu heikel sein. Den Franzosen, denen diese Art der Ehetragödien als Komödien geläufig ist, wird der Film bestimmt imponieren. Und in den anderen Ländern wird der Bildungsgrad wohl der ausschlaggebende Faktor sein.
Was heißt das alles? Hier ist ein Kunstwerk, über das man geteilter Meinung sein kann, das aber in jedem Falle in seinem Lande der Welt in dieser feinsten Ziselierung menschenwahrster Goldechtheit geschaffen werden konnte, einer Goldschmiedekunst von einer Feinheit der Arbeit, daß man sie als Museumsstück unter Glas stellen möchte.