Drachenfutter
Ja wo sind wir denn?
Helmut Schmitz, Frankfurter Rundschau, 11.02.1988
Der einzige Deutsche im Hamburger Chinalokal ist der Koch. Das sagt schon alles. Oder doch nicht? Vielleicht hat der Mann – der Bühnenschauspieler Ulrich Wildgruber verleiht ihm kratzbürstigen Schwabbelcharme – hier sein Asyl gefunden, vor seinen eigenen bescheidenen Kochkünsten beispielsweise. Jedenfalls wäre er immer noch zu Hause, was für die afrikanischen und asiatischen Hilfskräfte gewiß nicht zutrifft. Sie fristen ein elendes Leben, bedroht von der Abschiebung, wenn ihr Asylantrag in letzter Instanz abschlägig beschieden wird.
Unter diesen Menschen, die meist in großer Verzweiflung und wohl mit etwas kleineren Hoffnungen in die Bundesrepublik kamen, spielt Jan Schüttes Film "Drachenfutter". Ein junger Pakistani versucht einem älteren Landsmann bei den Behörden zu helfen, doch am Ende droht dem Graubart Ausweisung. Ihr entzieht er sich durch organisierte Flucht, die ihn auf verschlungenen Wegen bis nach Amerika führt. Davon erfahren wir beim Plänemachen und von einer Ansichtskarte – auch überm Teich ist alles "Scheiße". Der Junge beißt sich unterdes durch, macht mit dem Kellner jenes Chinalokals ein eigenes auf: die beiden veranstalten unter Freunden ein Entscheidungsessen, sie kochen jeweils national, der eine chinesisch, der andere pakistanisch, und das Lokal heißt am Ende nicht "Peking", sondern "Lahore".
Das Namenstags-Essen mit anschließender Stimmabgabe ist ein kleines Kabinettstückchen in Schüttes humanistisch beseeltem Film. Ein internationales Arbeitsessen in herzlich-brüderlicher Atmosphäre, der Unterlegene läßt den Sieger hochleben. Ein Lichtstreifen in der Tristesse, ein gleichwohl melancholischer Sieg über das schier Unmögliche: zwei arme Teufel als freie Unternehmer mit eigenem Geschäft.
Der Weg dorthin illuminiert der Regisseur – der zusammen mit Thomas Strittmatter das Drehbuch schrieb – anhand vieler kennzeichnender Details mit allerlei Schlaglichtern auf bundesrepublikanische Zustände. Sein Schwarzweißfilm gliedert sich episodenhaft und folgt den Unternehmungen seiner Protagonisten protokollierend auf dem Fuß. Die Haltung ist betont cool, Emotionen zeigen die Betroffenen, beim Zuschauer werden sie ausgelöst.
Jan Schütte hat zum Thema zuvor einen gleichnamigen Dokumentarfilm gedreht, und wie ein dokumentarischer Spielfilm wirkt auch dies in Zusammenarbeit mit dem Kleinen Fernsehspiel des ZDF gedrehte, knapp 80minütige "Drachenfutter". Es werden jedoch nicht mehr Argumente und Standpunkte der Asyldebatte ausgebreitet: es wird das Leben der Asylsuchenden protokolliert (mit vorzüglich geführten Profi- und Laiendarstellern; allesamt Betroffene; und, neben Wildgruber, den Deutschen Peter Fitz und Wolf-Dieter Sprenger).
Diese ebenso lapidaren wie anrührenden Lebenszeugnisse kontrastieren um so schärfer mit der anteilnahmslosen Behördenroutine. Der "Sachbearbeiter", konfrontiert mit dem Foto des Bruders, der in der Heimat der Verfolgung erlegen ist: soll er aus diesem Grund dem hilfeflehenden Pakistani etwa – was er gar nicht vermöchte, aber vielleicht wollen könnte – aus eigener Vollmacht Asyl gewähren, wo er im gleichen Atemzug dessen Nichterteilung verkündet? Der Mann sitzt bloß emotionslos, schon die nächste Nummer aufrufend, als zweifacher Unmensch da: als Vertreter des Apparats und als Privatperson.
Das ist ihm gegenüber womöglich ungerecht und nicht fair, aber was ist diese Unfairneß und Ungerechtigkeit im Vergleich zu dem, was mit dem Mann an seinem Schreibtisch passieren wird? – Es würde der unausgesprochene moralisch-politische Appell von Schüttes Film die unterschiedslose Gewährung von Asyl für alle bedeuten, die es beanspruchen. Konsequent wird in "Drachenfutter" folglich nicht auf die Asylgründe der einzelnen eingegangen: daß sie da sind, ist Grund genug.
Diese radikalste aller Haltungen wird auf dem Weg über den Bauch des Zuschauers – oder sein Herz, was hierzulande oft identisch ist – in dessen Kopf eingeschleust. Da dürfte sich heilsame Unruhe ausbreiten, vielleicht sogar bei Leuten, die ausländerfeindlichen Parolen das Ohr nicht verschließen. Und einen nicht unsentimentalen Trick erlauben sich Schütte/Strittmatter auch. Die beiden Helden, die sich als von deutscher Tüchtigkeit erweisen, ohne daß ein Deutscher ihretwegen Angst um seinen Arbeitsplatz zuhegen bräuchte: Shezad und Xiao ereilt das Schicksal am Tag der Eröffnung ihres Lokals. Shezad wird aus der Küche von der Ausländerpolizei abgeführt und ins nächste Flugzeug gesetzt, einen Behördenbrief hatte er ahnungsvoll-unbeachtet in die Schublade gelegt. Selber schuld? Der Gerechte mit dem grünen Paß werfe den ersten Stein. Tut er"s tatsächlich, dann mit einem unguten Gefühl: diesen Schaffer hätten sie aber ruhig dalassen können.
Nichts da: "Drachenfutter" plädiert für ein entschiedenes Entweder-Oder, für Aufnahme ohne Vorbehalt. Dem haben inzwischen der Minister Zimmermann und die Seinen mit dem erschwerten Zugang zur Bundesrepublik bereits entgegengesteuert. Auch das "Loch" in Ost-Berlin wurde in deutsch-deutscher Zusammenarbeit gestopft. Über die Friedrichstraße schleust im Film Shezad noch eine Gruppe Landsleute in den Westen, dem DDR-Kontaktmann unterschlägt er den Fluchtlohn und steckt ihn in sein Lokal. Doch die für Ost-Hände gedachte West-Mark hilft ihm, wie bekannt, auf Dauer nicht weiter, so wie die Flucht-Schmiergelder den händlerisch-hilfreichen deutschen Hausmeister des Hamburger Asylantenheims ihrerseits zur Flucht ins Ausland zwingen, als die Sache heiß wird.
Die einen fliehen herein und gezwungenermaßen weiter, der andere hinaus – ja wo sind wir denn? In der Bundesrepublik Deutschland, einer der reichsten Industrienationen. "Kein Einwanderungsland".