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Wie in "Das Einhorn", kurz zuvor von Peter Patzak verfilmt, steht auch in dieser Walser-Adaption der Schriftsteller Anselm Kristlein im Mittelpunkt. Mittlerweile versucht er sich als Betreiber eines Flipper-Salons in München – doch er verliert sowohl den Job als auch das Vermögen seiner Frau. Sie hält weiterhin zu ihm, als er in desolatem Zustand an den Bodensee zurückkehrt; sogar als sich seine nichtsnutzigen Bekannten Edmund und Elmar bei ihnen einquartieren. Schweren Unwettern zum Trotz fährt Kristlein am Ende mit ihr in einem Segelboot auf den See hinaus.
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Anselm, psychisch schwer angeschlagen, zieht durch die Münchner Szene – und flüchtet sich schließlich, von seiner um einiges jüngeren Frau, mit der er seit 15 Jahren verheiratet ist, gesucht, in die Einsamkeit der Natur. Wo er einem vielleicht zwölfjährigen taubstummen Mädchen begegnet, sich erneut mit einem prekären Job über Wasser zu halten versucht, die Katastrophen des Alltags aber geradezu magisch anzieht: Anselm wird Zeuge, wie ein aus dem Heim in den Wald geflüchtetes Mädchen per Hubschrauber gesucht und schließlich von Hunden gehetzt wird, wie ein Fabrikant erst seine Familie und dann sich selbst umbringt und wie türkische Gastarbeiter in einem Heustadl verbrennen bei dem Versuch, sich einen Hammel zu braten.
Anselm gerät ins Visier der Polizei, die ihm aber den Mord an der steinreichen Lady Eltron nicht nachweisen kann. Nach seiner Freilassung ist er aber bei der Dorfbevölkerung stigmatisiert und sieht sich Anfeindungen bis hin zu körperlichen Angriffen ausgesetzt, obwohl mit Theopont Dirlewanger, der als Unikum durch den ganzen Film geistert, der eigentliche Täter ermittelt wird. In dieser aussichtslosen Lage wird er von Alissa gefunden, die ihn nach Hause zurückbringt. Das aber keines mehr ist: das Erholungsheim des verkauften Unternehmens steht leer. Was auch an den Kindern der Kristleins nicht spurlos vorübergeht. Bald bevölkert sich das Heim wieder – mit Außenseitern und Verlierern wie Anselm. Sein vorgeblich ältester Freund, der versoffene arbeitslose Werbetexter Edmund Gabriel, ist darunter, der junge Klinkenputzer Elmar Glatthaar, der den Leuten an der Haustür Zeitschriften-Abonnements anzudrehen versucht, auch der ehemalige Hausmeister der benachbarten Unternehmer-Villa, Michel Enzinger, mit Rosa Blomich schließlich sogar die ehemalige Gattin des Süßwaren-Unternehmers, der auch seinen Wohnsitz an die neuen Eigentümer abgibt und Angst hat, von ihrem „Ex“ übern Tisch gezogen zu werden. Nach einer Abfolge von Katastrophen, die für einige der Beteiligten im Irrenhaus enden, besteigen Anselm und die weitaus praktischere, lebensbejahend-daueroptimistische Alissa samt der drei Kinder Lissa, Drea und Guido unter Blitz und Donner die Segelyacht ihres ehemaligen Chefs und brechen am Bodensee zu neuen Ufern auf…
Aussteigergeschichten sind groß in Mode im bundesdeutschen Kino der ausgehenden 1970er Jahre, für „Der Sturz“ gabs vom Bundesinnenministerium eine Drehbuch-Prämie in Höhe von 250.000 DM und von den drei Münchner Produktionsgesellschaften ein Budget von knapp drei Millionen Mark. „Der Sturz“ ist nach „Das Unheil“ (Peter Fleischmann, 1972) die dritte Walser-Romanadaption und nach „Das Einhorn“ (Peter Patzak, 1978) die zweite Verfilmung aus der Kristlein-Trilogie Martin Walsers, die 1960 mit „Halbzeit“ begann. Da war der Protagonist Anselm Kristlein noch ein Werbefachmann, der mit jugendlichem Übermut und einer gehörigen Portion Aggressivität den noch sehr unterentwickelten Markt der „Reklame“ umkrempelte bin hin zu Konzeptionen, die man heute mit Marketing beschreiben würde.
Sechs Jahre später, im Roman „Das Einhorn“, versucht sich Kristlein als Schriftsteller, besser: als Sachbuchautor zum Thema „Liebe“. Und noch einmal sieben Jahre später schreibt Walser mit „Der Sturz“ eine Art Endzeit-Geschichte über seine Figur, die an der von der Gesellschaft vorgegebenen Ordnung scheitert und deren Zustand Anselm Kristlein so formuliert hat: „Mir wird schwindlig vor Nervenwut, ich hab das Gefühl, ich flimmre.“ Andererseits geht Kristleins Leben weiter, und das vielleicht gar nicht einmal so schlecht, wie Franz Buchrieser glaubt: „Kristleins Sturz ist ein Absturz in ein besseres Bewusstsein. Aus jedem Verlust zieht er Gewinn für sein persönliches Leben.“
Was schon bei Alf Brustellins „Lina Braake“ und „Berlinguer“ positiv aufgefallen ist: in seinem ersten eigenständigen Film ohne Ko-Regisseur Bernhard Sinkel geht er vom Trickfilm-Vorspann an über 103 Minuten mit weit weniger ideologisch-oberlehrerhafter Besessenheit zu Werke als seine Zeitgenossen auf dem Regiestuhl. Er schildert in „Der Sturz“ mit bewunderungswürdiger Leichtigkeit die Stationen eines Ausstiegs, die Szenen haben etwas Märchenhaftes.
Alf Brustellin im Presseheft über seinen letzten Kinofilm vor seinem tragischen Unfalltod im November 1981: „Ich habe versucht, den alltäglichen Wahnsinn und das alltägliche Elend von Leuten, die in irgendeiner Weise gescheitert sind, nicht als Dokumentarspiel oder als abgesicherte, legitimierte Tragödie zu bringen. Es ist die Geschichte eines Mannes, der vierzig Jahre alt ist, seinen Job verliert, wahrscheinlich keinen neuen mehr kriegt und das kleine Vermögen, das er hat, auch noch verliert, dessen Frau zu ihm sagt: Was ist jetzt? Und dessen Kinder durch die Gesellschaft schon deformiert sind - diese Geschichte, die so und ähnlich heute ununterbrochen passiert, ist grauenhaft wahr und realistisch. Aber ich will nicht nur zeigen, was realistisch ist, sondern ich will auch zeigen, wie es sich in einer neuen Qualität aufheben kann. Zeigen, was sein könnte oder sein müsste. Ich versuche, die Siege zu feiern, die Menschen trotz ihrer Niederlagen haben könnten.“
Pitt Herrmann