Abschied vom falschen Paradies
Elif war hier
Andreas Kilb, Die Zeit, 05.05.1989
Elif lernt Deutsch: "Hunger. Kalt. Angst." Damit fängt sie an. Der Rest ergibt sich von selbst. Elif ist im Gefängnis, weil sie ihren Mann umgebracht hat. Hunger. Der hat sie in der Türkei geheiratet und mit nach Deutschland genommen. Kalt. Warum Elif ihren Mann mit einem Messer erstochen und gewartet hat, bis die Polizei kam, erfährt man nicht, aber man kann es sich denken. Angst. Jetzt, da sie die Wörter gelernt hat, verschwinden auf einmal Hunger, Kälte und Angst, und in Elifs Zelle wird es beinahe warm, beinahe hell. Abschied vom falschen Paradies. Was ist das, ein falsches Paradies?
Im Vorspann zu Tevfik Başers Film liest man auf einer Wand, durch die Sekunden später die Abrißbirne krachen wird, die Inschrift: Elif war hier. Also ist der Ort, an dem der Film spielt, schon verschwunden, zertrümmert, sind die Bilder, die der Film zeigt, schon Vergangenheit. Elif lebt hier nicht mehr. Gleich am Anfang des Films sieht man, wie sie sich die Pulsadern aufschneidet. Am Ende wiederholt sich die gleiche Szene noch einmal, nur um Winzigkeiten verändert, und man erfährt, daß Elif überlebt hat. Die Zeit, die Elif im Gefängnis verbringt, ist nur eine Frist zwischen Tod und Tod. Das ist das Falsche am falschen Paradies.
Elifs Urteil wird aus dem Off vorgelesen: sechs Jahre wegen Mordes. Eine Revision gibt es nicht. Der Film ist kein Plädoyer für Elif, sondern eine Elegie über sie. "Bald kommst du zu uns in den Vollzug, da wird es dir besser gehen", sagt eine Frau, als Elif noch in Untersuchungshaft sitzt. Im Vollzug lernt Elif andere Frauen kennen, die lebenslang einsitzen müssen. Nachmittagskaffee, Geplauder, Spaziergänge über den Hof. Elif bekommt Liebesbriefe von einem Türken, der im Gefängnisbau gegenüber sitzt. Einmal treffen sich die beiden, schweigen sich an, im Hintergrund spielt ein Mann auf einem Akkordeon. Der Film betrachtet das alles mit einem kalten, ungerührten Abschiedsblick. Der Tod ist groß ./ Wir sind die Seinen / lachenden Munds.
Nach ihrer Entlassung soll Elif in die Türkei abgeschoben werden. "Hier lebenslang, dort Todesstrafe." Das ist der dramatische Knoten des Films. In der Vorlage, Saliha Scheinhardts "Frauen, die sterben, bevor sie gelebt hätten", wird er gelöst, im Film bleibt der Ausgang der Geschichte offen, Tevfik Başer interessiert sich nicht für Problemstellungen – also auch nicht für "Botschaften" –, sondern für Situationen: Hunger, Kälte, Angst. Wörter in gebrochenem Deutsch, Menschen in gebrochenen Bildern. Wenn das Gefängnis für Elif ein Paradies ist, dann ist die Welt falsch konstruiert. Auch die Maschine Kino funktioniert nicht mehr, deshalb schleudert sie Elifs Selbstmordversuch zweimal auf die Leinwand, wie ein Motor, der stottert und in Gegenrichtung läuft. Der Schrecken wird mechanisch, die Rührung auch.
Schon Tevfik Başers erster Spielfilm "40 m² Deutschland" handelte vom Leerlauf: Eine Türkin wird von ihrem Mann in der Wohnung eingesperrt, am Ende steigt sie über seine Leiche hinweg ins Freie. In "Abschied ..." ist es umgekehrt, das Eingesperrtsein bedeutet Freiheit, die Befreiung Tod. Aber Başers erzählerisches Modell ist gleich geblieben. Wieder wird ein Mensch, der drinnen ist, eingekreist, umklammert, und vom Draußen bleiben nur Abstraktionen, Träume. Die sieht man in Zeitlupe oder durch Einzelbildschaltung verzerrt: Elif und ihre Freundinnen beim Baden, auf dem Nachhauseweg ins Dorf, ein Feld voller Sonnenblumen, Elifs Elternhaus, Elifs Mutter. In diesem Moment versagt der Film, weil er mit den Emotionen trickst, die Erinnerungen technisch aufmöbelt, die Tonspur (Musik: Claus Bantzer) mit Gefühlsschlieren überzieht. Tevfik Başer möchte uns mit allen Mitteln rühren, selbst mit Dilettantismus. Das hat noch nie funktioniert.
Daß "Abschied vom falschen Paradies" keine mechanische Studie geworden ist, liegt an Zuhal Olcay. Vor der Kamera holt sie immer wieder auf, was der Film zwischendurch an Wahrhaftigkeit verliert. Einmal geht sie in einem schwarzen Abendkleid, das ihr eine Mitgefangene geliehen hat, langsam die Treppen zum Besuchsraum hinunter. Als ginge sie ins Paradies.
© Andreas Kilb