Der Bulle und das Mädchen
Riskanter Seitenwechsel
Karsten Visarius, Frankfurter Rundschau, 24.04.1985
Zuerst glaubt man an die Parodie einer Imitation. Vor einer in schattenhaftem Dunkel liegenden, fratzenhaft bemalten Mauer taucht, mit gezogener Pistole, ein Mann auf. Er pirscht durchs Gebüsch, dringt ein in ein Haus, hechtet durch die Flure, entfesselt eine wilde Schießerei: James-Bond-Filme pflegen so zu beginnen. Dann flammt Licht auf, eine Lautsprecherstimme verkündet: Ende der Nahkampf-Simulation. Wir erkennen, daß wir Zeuge einer Täuschung waren, an der wir schon gezweifelt hatten – zu schneidig war dieser Auftritt, zu schemenhaft die Gegner, zu künstlich die Szenerie.
Aber der Mann, der bei dieser Routineübung eben 93 von hundert Punkten erzielt hat, dieser Polizist, Zivilfahnder, einfach: "der Bulle", der so namenlos bleibt wie die anderen Figuren des Films; dem wir bei seinem Streifen durchs Revier folgen und in die trostlose Nüchternheit seiner Bebauung, wo er seiner Schusswaffen liebkost statt die Hure, die er sich mitgebracht hat – er glaubt an die Rolle des harten Burschen, die er spielt. Und eine Weile sieht es so aus, als wolle uns Peter Keglevic eine deutsche Version des reaktionären amerikanischen Polizeifilms vorsetzen, mit Jürgen Prochnow als einem Kölner Clint Eastwood ("Dirty Harry"). Erst später werden wir wissen, daß Keglevic von einer Welt erzählt, die aussieht wie ein schlechter Film, der sich das katholische Köln zu einer Dependance der Bronx entstellt hat und die Geste der Abweichung zum kriminellen Charakterzug.
Der Polizeifilm vermischt sich mit der Romanze, die Brutalität der Macht wird von der Macht der Empfindung durchkreuzt, die starre Ordnung des staatlichen Apparats und eines im Beruf verkapselten, zynischen Daseins bricht auf zu einer Geschichte mit ungewissem Ausgang. Prochnow, der abgebrühte Bulle, trifft Annette von Klier, das Mädchen, ein Geschöpf der jüngsten Neoromantik, zwischen misstrauischer Widerborstigkeit und unverblümter Sentimentalität. Er hilft ihr, in einer Regung wider Willen, das wird ihnen beiden zum Verhängnis. Er verfolgt sie und muß sie vor ihren Verfolgern retten. Er will zurückkehren in die Routine seines Polizistenalltags und entdeckt, daß sie und er über Nacht zum Objekt des Apparats geworden sind dem er selbst noch angehört, zu kriminell verdächtigen Subjekten, nach denen gefahndet wird. Unversehens ist aus der munteren Jagd eine bedrohliche Falle geworden. Der Bulle, der professionelle Verfolger, findet sich plötzlich auf der Seite der Verfolgten. An diesem Umschlagspunkt prallt das Spiel mit einem Genre auf der Wirklichkeit polizeistaatlicher Paranoia.
Ein Changieren der Figuren zwischen genrehafter Typisierung und zeittypischen Verhaltensweisen, überraschende Verschiebungen der Wahrnehmungsperspektive, eine Verschränkung von filmsprachlichen Internationalismen und Impressionen bundesrepublikanischer Gegenwart zeichnen das Drehbuch aus, das Peter Märthesheimer, Autor der letzten Fassbinder-Filme, für Keglevic geschrieben hat. Sie orientieren sich an einem Ideal geradlinigen Erzählens ohne gravitätische Bedeutsamkeitsposen, einer Logik der Gefühle ohne umständliche psychologische Motivierung und einer szenisch-funktionellen Zeichenhaftigkeit ohne bemühten Realismusnachweis. Sie bewegen sich in einer Welt populärer Trivialmythen und verlieren sich dennoch nicht in orts- und zeitloser Beliebigkeit.
"Der Bulle und das Mädchen" ist der Sehnsucht entsprungen, das Kino der einfachen Geschichten und der überwältigenden Gefühle für den deutschen Film zurückzugewinnen, ein Ziel, das ihn mit Arbeiten von Regisseuren wie Peter F. Brinkmann, Roland Klick oder Adolf Winkelmann verbindet. Trotz mancher Schwächen – im absichtlich lapidaren Dialog vor allem und einer viel zu aufdringlichen, die Tonebene verschmierenden Musik – sind Keglevic/Märthesheimer diesem Ziel erstaunlich nahegekommen.