Glamour einer Unscheinbaren
Thomas Winkler, Die Zeit, 06/2005
Am Nebentisch herrscht aufgeräumte Stimmung. Etwas aufgeräumter, als man es hier, in dieser Kneipe in Prenzlauer Berg, in der sich seit der Wende die linksalternative Szene aus der Umgebung trifft, gewohnt wäre. "Wir wollen alle besoffen sein", wird nun intoniert, so laut, dass Julia Hummer erschrocken die Hand vor den Mund legt. Und sich bemüßigt fühlt, die Generation zu verteidigen, zu der sie ebenso gehört wie die Störenfriede von nebenan. "Alle behaupten, wir seien ungebildet, wir hätten keine Inhalte", entrüstet sie sich ein wenig, "aber das stimmt einfach nicht."
Da hat sie Recht. Julia Hummer jedenfalls hat ihre Ansichten. Sie hat verschiedenste Talente, Erfolg bei Kritik und Publikum und die allerbesten Aussichten, Karriere zu machen. Nur eins hat sie nicht: Geld, sich ein Bier kaufen zu können. Das ist dann doch überraschend, denn die 24-jährige Schauspielerin ist auf dem Weg, ein Filmstar zu werden. Ginge es aber nach Julia Hummer, dann wäre sie nicht einmal Schauspielerin: "Momentan mache ich nichts anderes als Musik."
Die Musikerin Julia Hummer schreibt Songs, spielt Gitarre und singt. Ab und zu tritt sie auf mit ihrer Julia Hummer Band in eher kleineren Clubs. Es gibt Verhandlungen mit Plattenfirmen. Zeitweise hat die Agentur, die die Schauspielerin Julia Hummer vertritt, den Kontakt zu ihrem Schützling verloren. Dennoch wird Hummer demnächst einen Popularitätsschub als Darstellerin erleben. Wer sie als Tochter eines untergetauchten Terroristenpaares in Christian Petzolds "Die innere Sicherheit" verpasst hat oder als tobende Jugendliche in "Northern Star", der wird sie bald trotzdem kennen lernen, denn bei der Berlinale ist Hummer mit zwei Filmen vertreten: im Wettbewerb in der Hauptrolle von Christian Petzolds Film "Gespenster" und in einer Nebenrolle als Prostituierte in dem Episodenfilm "Stadt als Beute", der im Internationalen Forum gezeigt wird. Etwas Seltsames passiere mit Julia Hummer, wenn man eine Kamera auf sie richte, hat Hans-Christian Schmid, für den sie in "Crazy" spielte, festgestellt, ohne diesen Effekt erklären zu können: "Ihr Gesicht, ihre Augen, alles verwandelt sich." Und tatsächlich: Julia Hummer mag auf der Leinwand eine geradezu unheimliche Präsenz entwickeln, in einer Berliner Kneipe kann man sie leicht übersehen. Die 1,67 Meter, die ihre Agentur als Körpergröße angibt, scheinen eher übertrieben. Die Frisur ist neu, kurz und rötlich blond. Zur Begrüßung hatte sie gesagt: "Ich dachte, vielleicht erkennst du mich nicht." Dieser erste Satz erzählt mehr über Julia Hummer als die meisten ihrer in den nächsten beiden Stunden folgenden Versuche, die Schauspielerin und Musikerin Julia Hummer zu erklären.
1998 sprach ein Fotograf des Jetzt-Magazins die damals 17-Jährige in einer Münchner Straße an. Hummer hatte gerade die Schule abgebrochen und verdiente nun ihre erste Gage: 50 Mark. Der Fotograf hatte wohl etwas gesehen, was anderen bisher verborgen geblieben war. Vielleicht hatte auch er erst in der Dunkelkammer jene Wandlung bemerkt, die Julia Hummer vor einem Objektiv durchläuft. Einige Monate später jedenfalls entdeckte sie sich samt Cowboyhut auf dem Titel des Jugendmagazins der Süddeutschen Zeitung. Wiederum einige Zeit später geschah dem Regisseur Sebastian Schipper, was allen geschieht, die Julia Hummer treffen: Er fand sie unscheinbar, als er sie in einer Kneipe kennen lernte. Erst nach einiger Zeit brachte er die kleine Nervensäge mit dem Mädchen auf dem Jetzt-Titelbild zur Deckung und hatte die weibliche Hauptrolle für "Absolute Giganten" gefunden. Schon in diesem, ihrem ersten Film liegt in Julia Hummers Augen zugleich Versprechen und Verhängnis der Adoleszenz, kindliche Naivität und altersweiser Zynismus.
Christian Petzold weiß, dass er sich verlassen kann auf diese Augen. Er beginnt "Gespenster" mit Hummers Blick: Von hinten fährt die Kamera heran und verharrt für einen Moment in ihrem Nacken. Als sie sich umdreht und knapp am Objektiv vorbeischaut, sieht man all das, was Erwachsenwerden so mühevoll und zugleich so aufregend macht.
Hummer, die niemals eine Schauspielschule besucht hat, gilt als authentisch. Die Rollen, die sie gespielt hat, mögen noch so unterschiedlich sein, in der Kritik heißt es, sie sei vor allem sie selbst. "Man will anscheinend nicht wahrhaben", hält sie dagegen, "dass ich schauspielern kann." Trotzdem, sagt Hummer, bei manchem Film verkomme diese Schauspielerei zu "einer Art Dienstleistung". Die Musik dagegen "gestaltet meinen Alltag". Mehrere hundert Songs hat sie bislang geschrieben. Songs über Too Many Boys, über Romane, die sie gelesen hat, und Drogen, von denen sie nicht sagen will, ob sie sie genommen hat. Kurz, Songs über "das Leben und so", die sie nun singt mit ebenso klarer wie zerbrechlicher Stimme, begleitet von einer Band, deren Mitglieder mindestens zehn Jahre älter sind als sie und in Bands wie Schneider TM, Locust Fudge oder Awesome bereits einen gewissen Erfolg hatten und haben.
Hummer hört deutschen Rap und Techno, treibt sich auf Flohmärkten herum und sammelt Vinylplatten aus den siebziger Jahren. In ihrer Wohnung übt sie Schlagzeug und benutzt für erste Aufnahmen ein Computerprogramm. Am liebsten würde sie ihr eigenes Independent-Label gründen, und ihre erste und bislang einzige Veröffentlichung war eine Single mit zwei Stücken, die nur auf Vinyl und nur in England erschienen ist: "Die hat ein großes Loch, die sieht fantastisch aus, da steht drauf, sie ist gepresst in Nashville, Tennessee." Darauf ist sie stolz, aber Geld verdient man damit nicht.
Seit dem Sommer lebt sie von ihrer Gage für "Gespenster" studiert Design und macht ansonsten vor allem, was ihr wichtig ist: Musik. Das ist ihr lieber, als "Erfahrungen zu machen, die ich nicht noch mal machen möchte". Zu oft hat sie ihrer Meinung nach für Filme "das Gesicht hingehalten", die sie dann später lieber "unter Pseudonym" absolviert hätte. Dass ihr Image das eines Anti-Stars ist, findet sie "mittlerweile cool, denn ich bin ja nicht dazu da, die Freizeit der Leute zu verschönern". Währenddessen wird am Nebentisch immer lauter gegrölt, so laut, dass Julia Hummers Stimme auf dem Band später kaum noch zu hören sein wird. Sie singen Viva Colonia und Bumsfallera. Es ist ihre Generation. "Ich glaub total an die Leute", sagt sie, und es ist nur ein klein wenig ironisch gemeint.
© Thomas Winkler