Lotte in Weimar

DDR 1974/1975 Spielfilm

Jupiter tritt auf


Günther Rücker, Film und Fernsehen, Berlin/DDR, Nr. 6, 1975

(…) Es ist das Merkmal vieler außergewöhnlicher Filme gewesen, daß erst im Laufe von Jahren und Jahrzehnten begriffen wurde, was sie eigentlich für unsere Filmkunst bedeuteten. Als Egon Günthers größte Leistung in diesem Film sehe ich; er wagte es, den Heros der Nation, Johann Wolfgang von Goethe, auf die Leinwand zu bringen. Ein Nationalheiligtum in movie pictures. Darf man das? Geht das denn überhaupt? Ich hätte jede Wette angenommen, daß das nicht geht. Goethe geht überhaupt nicht, und Goethe von Martin Hellberg geht auch nicht. Eins zu tausend hätte ich die Wette angenommen. Nun gut. Bevor die Exzellenz auftritt, vergehen neunzig Minuten. Warten wir"s ab. Lotte beherrscht so lange die Szene. Und wie sie die Szene beherrscht!

Lilli Palmer. Sie spielt die Charlotte Kestner, geb. Buff. In den ersten Szenen kam mich das GefühI an, die Mittel der Palmer und die Mittel des Ensembles kämen nicht überein. Aber bald, sehr bald schwand der Eindruck. Die Palmer hat jeden Satz, jede Szene, jede kleine und kleinste Nuance, jeden winzigen Einschub, jeden Nebengedanken und Nebensatz aufs gründlichste durchforscht und durchmessen, durchdacht, gewendet, durchleuchtet und geprüft auf seine Gediegenheit und wie man ihn spielen könnte. Sie bewegt ihn am Ende leicht und mit Grazie. Ihr Spiel ist gescheit, voll Anmut und Noblesse. Sie spielt Lotte, diese Erscheinung aus Dichtung und Legende, mit Charme und subtiler Sensibilität. Sie versteckt das Alter der Charlotte keine Sekunde lang. Und keine Sekunde lang ist sie ohne Reiz. Man kann sich die Lotte nachher von keiner anderen gespielt denken. (…)

Werthers Lotte und Werthers Leiden: die Rückblenden.

Zeitweise gelten sie als modern im Film, zeitweise sind sie verpönt. Allzu oft sah ich sie als routiniert eingefädelten Versuch, dramaturgisch schwachen Filmen über die Runden zu helfen. Meist ist der Gewinn, den sie bringen, kleiner als ihn sich Dramaturgen wünschen. "Lotte in Weimar" aber lebt nun einmal von Erinnerungen, vom Ineinander und Durcheinander aus Gegenwart und Vergangenem. Es gibt wenige Filme, in denen die Erinnerungsbilder so geschmackvoll, so gediegen bewältigt wurden wie hier. Vielleicht muß man, um das Gelungene dieses Wechsels von einst und jetzt genießen zu können, den "Werther" gelesen haben und ihn lieben als eines der großen Bücher der Weltliteratur, und muß fähig sein, die Beziehungen zur Filmgegenwart selbst hinzuzudichten. Vielleicht sind die Rückblenden ohne dieses Wissen nichts weiter als mühselig zu entziffernde Arrangements eines Kostümstückes. Vielleicht aber verstärkt alles Wissen nur eine Wirkung, die sich auch ohne es einstellte. Wie immer es auch sei, der Regisseur ist mit den Rückblenden und Zitaten aus dem Wertherroman klug und meisterlich umgegangen. Der Werther, der uns da entgegentritt, ist zwar ein bißchen ein Milchgesicht und ein bißchen zu tumb, wenn man ihn ans Buch hält und strenge vergleicht. Aber in seinen hingerissenen Blicken liegt ein rührender Glaube an diese Welt, aller kritischen Überlegungen bar, daß man ihn gewähren läßt in seinem Sturm und Spiel. Der Darsteller hält sich einfach der Kamera hin und besiegt uns. Das mag gegen alle Kunst sein. Aber im Film ist manches gegen die Regel und hat doch tiefe Wirkung.

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