Augenlied
Augenlied
Hans Messias, film-dienst, Nr. 19, 09.09.2003
Man muss es einfach akzeptieren, auch wenn viele Säugetiere mit einem besonders feinen Gehör- oder Geruchssinn ausgestattet sind: In erster Linie sichert das Sehen das Überleben der Spezies. Während Fluchttiere (u.a. Pferde) im Laufe der Evolution den "Blick“ nach hinten ausbilden konnten, ist der Mensch auf den Blick nach vorn konditioniert. Er garantiert relative Sicherheit, lässt Feindseligkeiten schon im Ansatz erkennen. Doch das Sehen sichert nicht nur das Überleben, es ist im Laufe der Kulturgeschichte zu dem Sinn geworden, der es ermöglicht, sich mit der Welt in Beziehung zu setzen, eine Relation zwischen Ich und Umwelt aufzubauen, Schönheiten wahrzunehmen und sich in einem sozio-kulturellen Kontext zu äußern. Sehen ist der Sinn überhaupt, doch was, wenn er fehlt? Werner Herzog hatte sich 1972 in seinem beeindruckenden Dokumentarfilm "Land des Schweigens und der Dunkelheit“ (fd 17 564) mit dem Schicksal von Stummblinden auseinandergesetzt und ein eher düsteres Bild gezeichnet. Nun nähern sich Misch Popp und Thomas Bergmann einer Welt ohne Licht, aber mit um so mehr (Zwischen-)Tönen. Sie stellen Menschen vor, die den Verlust des Augenlichts scheinbar akzeptiert und die Welt der Sehenden hinter sich gelassen haben, um sich in ihrem jeweils eigenen Kosmos einzurichten. Bei den Porträts wird deutlich, dass sich alle Betroffenen ihren persönlichen Zugang zur Welt geschaffen haben; es wird aber auch klar, dass dieser Zugang nur durch etliche Hintertüren gefunden wurde. So ist beispielsweise eine Frankfurter Deutsch-Türkin froh, blind geboren worden zu sein, weil sie damit dem Los der Zwangsverheiratung entkommen ist; Oleg aus St. Petersburg hat die einzige russische Druckerei für Bücher in Brailleschrift gegründet und betreibt sie mit Blinden; der britische Philosoph John Hull wird nie müde, die Vorteile des Blindseins zu beschreiben, das alle anderen Sinne schärft und scheinbar eine intensivere Einlassung auf der Natur zulässt.
Bei aller positiven Energie ist "Augenlied" allerdings auch ein Film, der – wenn auch unterschwellig – den Verlust von Augenlust sinnfällig macht. Fast alle Befragten träumen sich als Sehende, die meisten scheinen den Verlust des Augenlichts bestenfalls sublimiert und in der ewigen Dunkelheit nach ihrem persönlichen Rettungsanker gesucht zu haben. Die beiden Filmemacher bemühen sich, sowohl die Sublimation als auch den Verlust ohren- und augenfällig zu machen. Doch ihre Bemühungen wirken eher kontraproduktiv: Während auf der Tonspur zu vieles an enervierenden Klängen beigesteuert wird, liefern meditative Landschaftspanoramen oder Großenaufnahmen von Blüten eher den Eindruck eines unwiederbringlichen Verlustes. Man weiß nicht so recht, was "Augenlied“ leisten kann oder will. Die Lebenswelt der Blinden den Sehenden nahe bringen, vermag der überaus ambitionierte Film wohl kaum. Dazu ist er zu glatt, zu beschönigend geraten. Selbst wenn Metaphern wie "Liebe macht blind“ oder die Weisheit bemüht werden, dass man sich schließlich mit geschlossenen Augen küsst, weil man sonst die allzu große Nähe nicht aushalten könne, bleibt die Aussage des Films ambivalent; die Botschaft, dass der Blinde letztlich mehr sieht und fühlt, will nicht so recht überzeugen.
Vielleicht bringen die Aussagen von Kindern, die von Popp und Bergmann genauso zögerlich befragt werden wie die anderen Protagonisten, die Sache schon eher auf den Punkt. Sie sehen in ihrer Blindheit nicht unbedingt die Chance, in neue Welten vorzudringen, wie der britische Philosoph Hall, oder die Möglichkeit, sich alles durch den Tastsinn zu erschließen, wie Tamara, die Körpertherapeutin aus St. Petersburg. Ein kleiner Junge sagt, er fühle sich als (blinder) Sklave in einer Welt von (sehenden) Königen. Das ist wohl auch das Los ihrer erwachsenen Schicksalsgefährten, die beispielsweise darunter leiden, den Alterungsprozess ihrer Partner nicht sehend erleben zu dürfen, sondern mit einem inneren Abbild leben zu müssen. An solchen Punkten stößt der Film an seine Grenzen. Ein kleines blindes Mädchen, das täglich Fernsehen sieht, lässt den Interviewer schließlich auflaufen. Es sehe eben seine Programme; nach beredtem Schweigen der Filmemacher kommt die Frage des Kindes: "Und was hast Du sonst noch für Fragen?“ So stehen am Ende des Films seine Macher wieder am Anfang: viele Fragen gestellt, viele Antworten erhalten, doch letztlich nicht ans Ende vorgedrungen. Das Land der Dunkelheit ist ein Territorium, das sich durch Bilder nicht so ohne weiteres erschließen lässt.