Das Haus in der Karpfengasse

BR Deutschland 1963-1965 TV-Spielfilm

Das Haus in der Karpfengasse



J-t, film-dienst, Nr. 10, 10.03.1965

Die Karpfengasse war ein Teil des alten Prager Judenviertels. Ihre Bewohner waren teilweise Juden, nicht irgendwelche, sondern traditionsbewußte Prager Bürger. Am 15. 3. 1939 marschierten deutsche Truppen ein. Tags darauf ließ Hitler den "Erlaß über das Protektorat Böhmen und Mähren" verkünden. Der Erinnerungsroman von Ben-Gavriel bemerkt dazu: "Plötzlich brach die krampfhaft nicht zur Kenntnis genommene Weltgeschichte über die Karpfengasse hinein. Ein Land ward zwischen Abend- und Morgenzeitung von der Landkarte gestrichen und soundsoviele Menschen hatten über Nacht das unveräußerliche Recht verloren, in der ihnen gewohnten Weise zu atmen, zu handeln, zu lieben und zu leben." Das Schicksal des Hauses Karpfengasse 115 "ging in einer Art teuflischen Systematik vor sich, denn es begann im Erdgeschoß und endete schließlich, von Stock zu Stock steigend, im Dachgeschoß".

Die plastische Anschaulichkeit des Romans verfehlt der von Kurt Hoffmann in Prag gedrehte Film gleich zu Anfang. Zwar verdeutlichen einige Dokumentaraufnahmen die äußeren Vorgänge. Aber nicht alle Bewohner des Miethauses werden vorgestellt, später auch nur einige von ihnen. Das erschwert Übersicht und Zusammenhang, verfolgt die Spur der teuflischen Systematik mehr zufällig und bereitet die Verhaftung der einer Widerstandsgruppe zugehörenden Hausmeisterstochter Bozena spannungsträchtig vor.

In der Filmfassung fehlt die erste Episode des von SA-Leuten zusammengeschlagenen Konditormeisters Workuta. Ihm folgt, als indirektes Opfer, die Inhaberin des Geflügelladens nach, die Witwe Kauders. Rückblenden erzählen von ihrem Mann und dem verlorenen Sohn, der sie im März 1939 von Brasilien aus retten will. Als ihr die Gestapo nach zermürbenden Schikanen das schon ausgestellte Visum abnimmt, bricht sie zusammen. Bereits vorher zusammengebrochen war die Ehe des Buchhändlers Marek im 1. Stock. Nach dem Einmarsch wird der sudetendeutsche Ehebrecher, einst Mareks Untermieter, Wehrmachtsoffizier. Der im Stich gelassene Marek verliert den Verstand. Im ersten und dritten Stock wohnen die Kompagnons der Papiergroßhandlung Lederer & Lauter mit ihren Familien: behäbige Besitzbürger mit kleinen Querelen und Schwächen. Während die halberwachsenen Kinder zum Aufbruch nach Palästina drängen, warten die Geschäftspartner den völligen Ruin ihrer Firma ab. Die Laufers können noch fliehen. Herr Lederer steckt sein Warenlager in Brand und kommt in den Flammen um. Einige Zeit später muß der jüdische Bankangestellte Mautner (3. Stock) mit seiner hysterischen Frau den Weg ins Konzentrationslager antreten. Dazwischen liegt die Schurkerei des zum Hausverwalter eingesetzten Deutschböhmen Glaser und seines Nazi-Sohnes Leopold. Ihm wird die „neue Zeit" zum Verhängnis, weil er von einer jüdischen Kommunistin ein uneheliches Kind hat und bei ihrem Erpressungsversuch die Nerven verliert. Schließlich wendet sich der Film ganz der mutigen Bozena aus der Portiersloge zu, ihrer Liebe zu dem ebenso blutjungen Widerständler Milan Sramek und den Studentenunruhen am Tag der Republik (28. 10. 39). Mit dem Untergang der Widerstandsgruppe endet der Film.

Auch der Roman zeichnet die Einzelschicksale nur fragmentarisch. Aber in meisterhafter literarischer Form verwebt er sie zu einem Ganzen. Eben dies gelingt dem Film nicht. Er stößt weder zu tieferer Bedeutung vor noch findet er eine eigene Form der Erzählkunst. Dennoch drücken die tschechischen Mitarbeiter – besonders der Kameramann Josef Illik – den Einzelepisoden den Stempel des Eigenwilligen auf. Hier ist man oft sehr unmittelbar im Bilde, hier dominieren Spontaneität und Verbindlichkeit einer ausnahmslos klischeefreien Darstellung. In dem deutsch-tschechischen Schauspielerteam gibt es kaum einen schwachen Punkt.

Gleichwohl sei Kurt Hoffmanns Verdienst nicht unterschätzt. Mit bemerkenswertem Einfühlungsvermögen, das nie die Positionen der unmenschlichen Unterdrücker und der menschlich-allzumenschlichen Unterdrückten verwischt, dringt er in Milieu und Mentalität der Prager Karpfengasse ein. Ben-Gavriêls Roman blieb unverfälscht. Der ihn stark verkürzende Film setzt jedoch die historisch-soziologischen Bedingtheiten zu sehr voraus, um noch mitreißen zu können. Für Jugendliche ist es daher schwer, sich ohne klärendes Gespräch zurechtzufinden. Die deutsche Spielfilmproduktion hat in den letzten Jahren nichts Vergleichbares vorzuweisen, das ein so starkes inneres Verhältnis zu der gestellten Aufgabe erkennen ließe. Schon deshalb und ungeachtet seiner künstlerischen Schwächen ist der Film einer Empfehlung in der Jahresbestliste der Filmliga wert.

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