Die Gezeichneten
Die Gezeichneten
Film-Kurier, Nr. 44, 24.2.1922
Der Primus-Palast, Potsdamer Str. 19, wurde gestern abend vor geladenem Publikum mit "Die Gezeichneten" (nach dem gleichnamigen Roman von Aage Madelung, Manuskript und Regie: Carl Th. Dreyer) eröffnet, nachdem Kurt Gerron einen von Dr. Leo Leipziger verfaßten Prolog vorgetragen hatte. Das Problem dieses Films ist ein uraltes, doch ewig neues: der Kampf zweier Rassen, hier der jüdischen und der russischen. Vielleicht ist es auch richtiger, angesichts der unproportionierten Kräfteverhältnisse, von dem Schicksal der einen und der anderen zu sprechen. Bei diesem durch Fanatisums mancherlei Art scharf gemachten Daseins- und Vernichtungskampf entfalten sich alle niedrigen sowohl wie alle höheren Triebe der Menschen, die letzten Vorhänge vor den Urinstinkten, den grauenhaften und erhabenen, werden aufgegriffen.
An Einzelschicksalen erweist sich auch die für ein ganzes Volk grundlegende Wahrheit: Es ist not, sich selber treu zu bleiben, seinem Glauben, seinem Wesen, seinem Sinn. Untreue führt zum Untergang, Treue triumphiert zuletzt über eine Welt von Teufeln und Viehnaturen. Dies offenbart sich deutlich an dem Schicksal der beiden Personen, die im Mittelpunkt der Handlung stehen. Der Advokat Segal, der dem Glauben seiner Väter untreu geworden, findet seinen Tod, Hanne-Liebe, seine Schwester, die seelisch Ergriffene, die tapfer Kämpfende, wird aus den Schrecken des Pogroms gerettet, durch ihren Geliebten. Die zarte Geschichte dieser beiden Liebenden, gestickt auf den gewaltigen, dräuenden Hintergrund eines trüben Volksschicksals, bildet denn auch, von Nebenhandlungen und Episoden abgesehen, die Fabel des Stückes. Das war genug, um einer gewandten und einfallsreichen Regie Gelegenheit zur Entfaltung fesselnder und ergreifender Bilder zu geben. Mit großer Liebe und Sorgfalt sind die einzelnen Szenen durchkomponiert, auf ihre photographische und seelische Wirkung berechnet. Vor allen Dingen macht Milieu und Ausstattung den Eindruck des Echten. Von verträumten Landschaftsbildern und Liebesszenen der Revolutionäre und schließlich, als dramatischen Höhepunkt, der aufwühlenden Blutrunst eines Pogroms zugeführt. Fast zu reichlich ist die Szenefolge, und hier müssen wir – wir dürfen es angesichts des großen Aktivkontos dieses Films – betonen, daß uns stellenweise etwas zu viel Titel vorhanden schienen, die einzelnen Szenen zuweilen zu kurz waren und die Bilder zu schnell abgeblendet wurden. Gerade die Schönheit der meisten Szenen rief den Wunsch wach, sie genügend lang, auch bis zur Aufnahme der Einzelheiten im Auge zu halten. – Das Spiel der Darsteller war fein abgestimmt, dezent, ohne Überbetonung, und vergriff sich kaum je in einer Nuance. Hervor ragen als Träger der Hauptrollen die Darsteller des Rechtsanwalts Segal (Wladimir Gaidarow, Stanislawskys Künstler-Theater, Moskau), der Hanne-Liebe (Gräfin Piechowska, Korsha-Theater, Moskau), des Studenten Sacha (Thorleif Reiss, National-Theater, Kristiania), des Fedja (Richard Boleslawski, Stanislawksys Künstler-Theater, Moskau). Eigentlich müßten wir alle nennen, denn alle brachten in hingebendem Spiel ihren Part zu lebenswirklicher Darstellung.