Strich-Punkt-Ballett
"Strich-Punkt-Ballett" (BRD 1950) – Filmschreiben ohne Kamera
Bereits 1943 unternahm der Kulturfilmregisseur Herbert Seggelke erste Versuche eines "Films ohne Kamera", indem er direkt auf das unbelichtete Filmband zeichnete. Er ließ sich dabei von den bunten Einzeichnungen inspirieren, mit denen Filme etwa für eine Überblendung markiert werden: "Das fing so an: Ich realisierte, dass die Cutterinnen Anweisungen für die Kopierwerke mit Fettstiften direkt auf die Urkopie zeichneten. Diese Zeichnungen ergaben – bei Vorführung – oft Bewegungen, also 'Bewegtes Bild'. Nach ersten Versuchen, 'Film ohne Kamera' zu machen, entwickelte ich nach dem letzten Krieg zu einer von der U.S.-Besatzung geschenkten Melodie (ich entwickelte damals mit ihr "Radio München") das zweiminütige 'Strich-Punkt-Ballett'." (Filminstitut Hannover, Materialien Seggelke, Sign. A.1 21)
Der Film wird unterschiedlich datiert; er ist jedoch nicht – wie häufig zu lesen ist – bereits 1943 entstanden. Kürschners biographisches Theater-Handbuch von 1956 führt unter dem Eintrag zu Herbert Seggelke das Jahr 1950 an – eine Datierung, die auf Seggelke zurückgehen dürfte und die hier übernommen wird.
Quelle: Jeanpaul Goergen |
Filmschreiben mit groben Farbstiften |
Mit einer Länge von 67 Metern und einer Spielzeit von 2'27" war "Strich-Punkt-Ballett" zu kurz für einen Beiprogrammfilm mit Längen um die zehn Minuten. Er kam erst Ende 1954 in die bundesdeutschen Kinos, als Seggelke ihn mit seinem Kulturfilm "Der Wundertisch" über die Arbeit am Schneidetisch "kinoreif" machte: "Ich will in diesem 250 Meter-Film in verständlicher, unterhaltsamer Form zeigen, wie solch ein handgeschriebener Film mit einfachsten Mitteln entsteht und dann als Ergebnis der Arbeit und Höhepunkt des Films mein 80 Meter langes 'Strich-Punkt-Ballett' zeigen." (Seggelke an H. Mäurer, 6.7.1953) Nun fungierte "Strich-Punkt-Ballett" als überraschende Schlusspointe eines Dokumentarfilms, die demonstriert, dass sich die mit Fettstiften ausgeführten Kopieranweisungen der Cutter und Cutterinnen spielerisch zu einem abstrakten Ballett formen lassen.
Der Film. Auf den Rhythmus einer nicht genannten amerikanischen Jazzkomposition abgestimmt, tanzen bunte Punkte und Striche vor hellen Hintergrund, rot und grün, gelb und schwarz, umspielen sich, werden größer und schrumpfen wieder, gruppieren sich zu Mustern und bilden Formationen, die sich ebenso schnell wieder auflösen. Als Kontrapunkt verleihen wellenförmige Linien dem Tanzspiel stellenweise eine weichere Note. Die Zeichen der Fettstifte sind nicht homogen und opak, sondern erscheinen durch die Vergrößerung unscharf, verwaschen, skizzenhaft.
Das bunte Spiel erinnert an ein flüchtig auf die Leinwand geworfenes Bild, an erste, noch unsaubere Pinselstriche, die sich selbständig machen und sich nun nach einer eigenen, geheimen Logik anordnen: abstrakte, freie Kunst. "Strich-Punkt-Ballett" wirkt wie ein wilder, heißblütiger Tanz voller Dynamik und Lebensfreude, ohne Rast und Ruhe, und vermittelt mit seinem befreienden Rhythmus und Tempo einen Eindruck davon, wie der im Nationalsozialismus als "entartet" unterdrückte Jazz nach Kriegsende gewirkt haben muss.
Über seine Arbeitsweise mit groben Farbstiften schrieb Seggelke in der Süddeutschen Zeitung (18.10.1952): "Sie hat den Nachteil, dass man nur mit undifferenzierten Formen arbeiten kann, andererseits den Vorteil des kürzesten Weges zwischen Idee und Ausführung. Daraus ergibt sich eine Unmittelbarkeit des Ausdrucks, die [Jean] Cocteau mit den Worten charakterisierte: 'Es ist, als ob Sie es grade auf die Leinwand schreiben.'" Die etwa 4500 Einzelbilder von "Strich-Punkt-Ballett" hatte Seggelke zur besseren Haltbarkeit auf dem Filmstreifen mit Zapponlack fixiert. (Film-Magazin, Bern, Nr. 21, 1954)
Beim Direktzeichnen – dem "Filmschreiben", wie Seggelke sein Verfahren nannte – könne der Künstler vor dem Filmstreifen sitzen wie ein Maler vor seiner Staffelei. In seiner "handwerklichen Einfachheit" sei das Filmschreiben näher an den bildenden Künsten als am Film. Der Künstler "sieht sofort das Ergebnis seiner Arbeit, kann sie ablesen wie eine Partitur und notfalls ohne Unterbrechung des künstlerischen 'Impetus' sofort korrigieren. Wenn er – was anfangs unerlässlich sein wird – an einem der Schneidetische, die für die Montage der üblichen Filme benutzt werden, arbeitet, so ist auch sofort das bewegte Bild zu kontrollieren. Zudem kann hier synchron zu einer Musik gezeichnet werden." Cocteau bezeichnete Seggelkes Arbeit daher auch als "lithographie vivante". (Rheinische Post, 21.9.1953)
Quelle: Jeanpaul Goergen |
Aus einfachsten Formen entstehen tänzerische Bewegungen |
An anderer Stelle weist Seggelke darauf hin, dass der Künstler zum Filmschreiben nicht mehr als einen Schneidetisch, unbelichteten Negativfilm zu 0,40 DM pro Meter und ein Musikstück benötige. (Herbert Seggelke: Entwurf zu einem Kurzfilm, 15.2.1953)
Das "Strich-Punkt-Ballett" habe nur 100 DM gekostet. Anwendungsmöglichkeiten sah der Künstler im Beiprogramm des Kinos, im Fernsehen, vor allem aber in der abstrakten Malerei. So könne sich "eine neue Kunstart, eine Filmmalerei" entwickeln. (Seggelke an Dr. Kramer, 8.11.1952). Auch im Bereich der Musikpädagogik, als Ballett-Schrift und in der Werbung wäre das Verfahren einsetzbar. Eine Weiterentwicklung sah Seggelke allerdings skeptisch, da eine staatliche Förderung nicht zu erwarten sei.
Das "Strich-Punkt-Ballett" steht in der Tradition der "absoluten Filme" der 1920er Jahre von Walter Ruttmann, Viking Eggeling, Hans Richter, Oskar Fischinger und dessen Bruder Hans Fischinger. Jeder von ihnen entwickelte seine eigene Tricktechnik, um abstrakte Formungen – zumeist an Musik angepasst – auf Film zu bannen. Aber erst in den 1930er Jahren begann Len Lye in Großbritannien direkt auf den Filmstreifen zu malen. Ab den 1940er Jahren griff Norman McLaren in Kanada diese Technik auf – Künstler, die Seggelke aber vermutlich nicht kannte.
Reaktionen. "Als Spiel gedacht und später ernst genommen" – so charakterisierte Seggelke 1984 das "Strich-Punkt-Ballett". Die Karriere des Films begann im Juli 1952. Als Berichterstatter zum Internationalen Filmfestival nach Locarno gereist, zeigte er seinen Film am Rande des offiziellen Programms einigen Interessenten. Die Begeisterung war groß und die Verantwortlichen des Festivals setzten ihn gleich zweimal als Beiprogramm zu einem Festivalfilm ein. Der Feuilletonist Hansres Jacobi widmete diesem "filmischen Neuland" in der Neuen Zürcher Zeitung (22.7.1952) gar eine lange Besprechung: "Man glaubt, ein abstraktes statisches Bild in Bewegung zu sehen, dessen feste Komposition tänzerisch aufgelöst und in stets neuen Variationen zu neuen originellen Kompositionen gefügt ist."
Jacobi verglich "Strich-Punkt-Ballett" mit den Arbeiten von McLaren: Während erster mit einem Fettstift arbeite, zeichne McLaren seine Filme mit Tinte. "Ergeben sich bei McLarens Technik hin und wieder vom Künstler unvorhergesehene Effekte und Zufälligkeiten, so gelang es Seggelke, die Idee mit der Form zu einer unbedingten Einheit zu verschmelzen." Die Übereinstimmung zwischen musikalischem und optischem Rhythmus sei vollkommen. Im Gegensatz zu den Filmen des Kanadiers erziele "Strich-Punkt-Ballett" eine größere Unmittelbarkeit. "Während man bei McLaren die Mittlerrolle der Technik zu verspüren meint, erweckt Seggelkes Streifen den authentischen Eindruck einer bewegten Handschrift." In seiner Jugend sei Seggelke ein begeisterter Charleston-Tänzer gewesen; in seinem Zeichenfilm täte er mit dem Buntstift das, "was er früher mit den Füßen beim Charlestontanzen getan habe, nämlich rhythmische Figuren entwerfen."
Quelle: Jeanpaul Goergen |
Kurven ergänzen das Spiel der Linien und Punkte |
In der populären Zeitschrift 'Mein Film' vom Februar 53 bewunderte Heinrich Satter die Übersetzung von abstrakter Zeichenkunst und Malerei in das Medium Film – mit dem markanten Unterschied, dass auch jene diesen Film verstehen, "denen die hypermodernen Bilder in den Galerien nur Kopfschütteln abnötigen, wenn nicht Schlimmeres..."
Andere Beobachter fanden die Bezeichnung "abstrakt" dabei fehl am Platz; das Primäre an "Strich-Punkt-Ballett" sei eher die "rhythmische Bewegung und der Ausdruck"; beide seien "etwas Unmittelbares, Urwüchsig-Lebendiges und haben mit 'Abstraktem' nicht das Geringste zu tun." Mit seinem Bezug zum Gebiet des "Unterbewussten, des Verdrängten, der seelischen Komplexe" stehe Film vielmehr dem Surrealismus nahe. (Film-Magazin, Nr. 21, 1954)
Der Filmjournalist Alexandre Alexandre dagegen bewertete die handgezeichneten Filme von McLaren und Seggelke nur als ein "theoretisch interessantes Verfahren, da für die Herstellung mehrerer Kopien später nach dem Original ein Negativ abgezogen werden müsste" – ein kurioses Argument, das sich einzig auf die übrigens problemlos herzustellende Vervielfältigung stützt. Auch das von beiden Künstlern angestrebte Ziel betrachtete er als einen Irrweg: "Sie beabsichtigen, als Filme Kunstwerke zu schaffen oder solchen einen Weg zu eröffnen, die in der Gesamtheit ihrer Phasen einem Meisterwerk der Malerei gleichwertig sind, das hieße, den 'Schönen Künsten' als neuen Zweig eine Sondergattung des gezeichneten oder gemalten Films hinzuzufügen." (Das Kunstwerk, Nr. 1, 1953) Damit spricht er aber generell dem Film die Möglichkeit ab, Kunst zu sein.
1952 lief das "Strich-Punkt-Ballett" (als "Ballet abstrait") bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig in der Reihe "Rassegna del Film Sperimentale e d'Avanguardia". Die Neue Zeitung berichtete am 5. September aus Venedig, Seggelke arbeite bereits an einem neuen gezeichneten Film mit dem Titel "Points d'amour" nach der "Humoreske" von Antonín Dvořák. Dieser Film ist aber offenbar nicht zustande gekommen. Der in Bonn ansässige Verein Inter Nationes zur Verbreitung der deutschen Kultur im Ausland übernahm das "Strich-Punkt-Ballett" als Auskoppelung aus "Der Wundertisch" in den nichtgewerblichen 16mm-Verleih.
Ausgehend von "Strich-Punkt-Ballett" entwickelte Seggelke die Idee zu dem Beiprogrammfilm "Eine Melodie – vier Maler" (1954/55), für den die Künstler Jean Cocteau, Gino Severini, Ernst Wilhelm Nay und Hans Erni kurze kameralose Filme beisteuerten – originäre Filmkunstwerke, jeweils inspiriert von der gleichen Melodie von Johann Sebastian Bach.
Erst 1955 legte Haro Senft mit "X Y" erneut einen handgezeichneten Animationsfilm vor. Danach dauerte es Jahrzehnte, ehe Lutz Dammbeck in "Metamorphosen I" (DDR 1979) sowie Bärbel Neubauer in der Bundesrepublik ab 1992 die Methode des Filmschreibens wieder aufgriffen.
Dank an Peter Stettner
(November 2023)
Archive:
Herbert Seggelke: Entwicklung von "Eine Melodie – Vier Maler" aus meinem "Strich-Punkt-Ballett". Undat. Typoskript (Filminstitut Hannover, Materialien Seggelke, Signatur A.1 21)
Herbert Seggelke an Dr. Kramer, Auswärtiges Amt, 8.11.1952 (LAV NRW R NW 60 Nr. 1243, Bl. 19-25)
Herbert Seggelke: Entwurf zu einem Kurzfilm. "Eine Melodie – sieben Maler". Hs. dat. 15.2.1953 (LAV NRW R NW 60 Nr. 1243, Bl. 12)
Herbert Seggelke an H. Mäurer, Ministerium für Unterricht und Kultus, Düsseldorf, 6.7.1953 (LAV NRW R NW 60 Nr. 1241, Bl. 5)
Herbert Seggelke an Hans Abich, 4.8.1954 (BArch N 1414_2)
Literatur:
Hansres Jacobi: Internationales Filmfestival in Locarno. Herbert Seggelke zeigt einen Außenseiter. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 1601, 22.7.1952
13. Mostra Internazionale d'Arte Cinematografica 1952. 1. Rassegna del Film Sperimentale e d'Avanguardia
Herbert Seggelke: Filme – handgeschrieben. In: Süddeutsche Zeitung, Wochenendbeilage, Nr. 42, 18.10.1952
Alexandre Alexandre: Der Kunstfilm in der Sackgasse. In: Das Kunstwerk, Nr. 1, 1953, S. 48, 53
Die Avantgardisten der Filmbiennale. In: Die Neue Zeitung, Nr. 209, 5.9.1952
Heinrich Satter: Filme, die fast nichts kosten. In: Mein Film, Februar 1953
Gibt es den abstrakten Film? In: Rheinische Post, 21.9.1953
Strich-Punkt-Ballett. Ein Film ohne Kamera. In: Film-Magazin, Bern, Nr. 21, 1954
Vier Maler. SWR Retro – Abendschau, 11.06.1959 (12‘35“)
Filme von Herbert Seggelke aus den Jahren 1943-1965. Der Autor und Regisseur kommentiert seine Filme. In: Klaus Dieter Schneider (Red..): Filmland Nordrhein-Westfalen. Programm und Information. Düsseldorf 1984, S. 68-79
Herbert A. Frenzel, Hans Joachim Moser (Hg.): Kürschners biographisches Theater-Handbuch. Berlin 1956, S. 687
Geschichte des deutschen Animationsfilms. Kuratiert von Ulrich Wegenast, II. Animation in der Nazizeit. DVD. Absolut MEDIEN 2011