Inhalt
Im vierstündigen "Prequel" zu seinem Hunsrück-Epos "Heimat", erzählt Edgar Reitz von den Vorfahren der Familie Simon und den ärmlichen Verhältnissen in Dörfern Mitte des 19 Jahrhunderts. Während der Alltag von harter Arbeit und immer wieder auch von Hunger geprägt ist, träumt Jakob Simon, jüngster Sohn des Dorfschmieds, von fernen Ländern, von den Indianern in Brasilien, von fremden Sprachen und Abenteuern im Dschungel. Er beginnt Auswanderungspläne zu schmieden und will seine große Liebe Jettchen mitnehmen, wenn er die Reise über den Ozean antritt. Doch seine Familie betrachtet sein Fernweh mit Argwohn, und als sein Bruder Gustav aus dem preußischen Militärdienst nachhause zurückkehrt, löst das eine Reihe ungeahnter Ereignisse aus, die Jakobs Leben eine ganz andere Richtung geben werden.
Kommentare
Sie haben diesen Film gesehen? Dann freuen wir uns auf Ihren Beitrag!
Jetzt anmelden oder registrieren und Kommentar schreiben.
Jakob (der Mainzer Medizinstudent Jan Dieter Schneider, 1990 geboren und in Kastellaun/Hunsrück aufgewachsen, verfügte zuvor nur über Laientheater-Erfahrungen), der jüngere Bruder, lässt alle Grenzen, die einem Bauernjungen in dieser Zeit gesetzt sind, hinter sich. Er liest jedes Buch dessen er habhaft werden kann, er studiert die Sprachen der Urwaldindianer, er entwirft Pläne für die romantischsten Abenteuer in den Wäldern Brasiliens und beschreibt, seit dem 1. April 1842 nachts im flackernden Kerzenschein, seinen Aufbruch aus dem Hunsrück in einem erstaunlichen Tagebuch. Das nicht nur seine Geschichte und seine Gedanken wiedergibt, sondern, auch darin Eichendorffs „Taugenichts“ nahe, das Lebensbild einer ganzen Zeit.
In den Strudel von Jakobs Träumen werden alle gesogen, die ihm begegnen: Seine von Mühsal und Arbeit geplagten Eltern, der Schmied Johann Simon (Rüdiger Kriese geht auch im wirklichen Leben diesem Handwerk nach und stand erstmals vor einer Kamera) und seine Frau Margarethe, Jakobs streitbarer Bruder Gustav, der in den Dienst des preußischen Königs eintritt, und vor allem das schöne Jettchen, die Tochter des verarmten Edelsteinschleifers Fürchtegott Niem und seiner Frau, sowie ihre beste Freundin Florinchen, ein Engel voller Liebesverlangen. Was kann es in dieser kargen Bauernwelt Schöneres geben, als Jakobs Erzählungen zu folgen und mit ihm Pläne zu schmieden für ein glücklicheres Leben jenseits des Weltmeeres?
Die Sehnsucht der jungen Menschen droht immer wieder zu zerbrechen - an der Unwissenheit der Zeit und an Krankheiten; an Tod und Naturkatastrophen, die über das Land hereinbrechen. Und an der Religion. So wird Jakobs Schwester Lena als Tochter der protestantischen Familie Simon brutal hinausgeworfen, als sie mit Walter einen katholischen Schwiegersohn nach Hause bringt. Nach der Hochzeit zieht das Paar daher an die Mosel, wo Jakob bei der Weinlese hilft – und offenbar nicht zufällig auf Jettchen trifft. Die Rückkehr des Bruders Gustav aus dem preußischen Militärdienst gibt den Anstoß für Ereignisse, die die Liebe zwischen Jakob und Jettchen erschüttern und Jakobs Leben in eine völlig unerwartete Richtung lenken wird...
„Die andere Heimat“, Sensations-Erfolg nach der Uraufführung am 29. August 2013 bei den 79. Filmfestspielen Venedig, dauert 230 Minuten und ist nach der Deutschen Erstaufführung am 28. September 2013 in Simmern/Hunsrück wie ein TV-Zweiteiler am 3. Oktober 2013 mit einer Pause zwischendurch in die Kinos gekommen. Von Kameramann Gernot Roll in Schwarzweiß (mit wenigen digitalen Farbszenen etwa bei der Deutschlandfahne der 1848er Burschenschafter) an Originalschauplätzen im Hunsrück gedreht, und das mit großem Aufwand an Bauten und historischer Ausstattung des Dorfes Schabbach, wobei bewusst Materialien und Gerätschaften der Region wiederbelebt wurden.
Auch Christoph Luser als Jakobs Freund und „48er“ Franz Olm, der für seine liberale Gesinnung ins Gefängnis muss, Reiner Kühn als Doktor Zwirner, der hilflos einer Diphterie-Epidemie gegenübersteht, Andreas Külzer als Pfarrer Wiegand, der auf der Kanzel von der Hoffnung auf sieben fette Jahre nach den mageren der Vergangenheit predigt, und Regie-Altmeister Werner Herzog als Alexander von Humboldt gehören zum großartigen Cast eines nachhaltig beeindruckenden Film-Epos im Cinemascope-Format, das in einer globalisierten, scheinbar entgrenzten Welt ganz aktuelle Fragen stellt nach der Zugehörigkeit zu einer wie auch immer definierten Heimat, nach Tradition und Glaube, aber auch nach Freiheit und Individualität.
Edgar Reitz war auch autobiographisch motiviert, seiner TV-Trilogie „Heimat – Eine deutsche Chronik“ (elf Folgen, rund 16 Stunden, Premiere 1984), „Die zweite Heimat – Chronik einer Jugend“ (13 Folgen, rund 26 Stunden, Premiere 1992) und „Heimat 3 – Chronik einer Zeitenwende“ (sechs Folgen, rund elf Stunden, Premiere 2004) ein opulentes Kino-Prequel folgen zu lassen: Der Brief einer Krankenschwester aus dem brasilianischen Porto Alegre konfrontierte den Filmemacher mit der Familienchronik eines katholischen Missionspaters namens Raulino Reitz, dessen Wurzeln im Hunsrückdorf Hirschfeld lagen, 15 Kilometer von dem Geburtsort der Brüder Edgar und Guido, dem 2008 Verstorbenen ist der Film „Die andere Heimat“ gewidmet, entfernt.
Der Regisseur über seine bewusst im Hunsrücker Dialekt des Ich-Erzählers Jakob Simon gehaltene Chronik einer Sehnsucht: „Ich fordere von den Zuschauern keine bestimmte Interpretation. Alles ist in der Kunst mehrdeutig. Meine eigene Absicht will ich nicht zur verbindlichen Auslegung erklären. Ich meine nur: Bücher sind mehr als nur Lese- und Informationsstoff. Das Bücherlesen verbindet uns mit der Welt des Geistes. Ein leidenschaftlicher Leser wie Jakob lebt in einer Parallelwelt, in der andere Gesetze gelten, als im normalen Leben. Jakob gelingt dieser Wechsel in diese andere Welt durch das Bücherlesen, durch die Liebe und durch eine bestimmte Form des Einsamseins. Wer es nicht sehen will, wer dafür nicht empfänglich ist, muss es nicht sehen. Ich bin kein Prediger und kein Terrence Malick, der den Leuten so etwas einbläuen würde.“ Free-TV-Premiere war am 26. August 2015 auf Arte.
Pitt Herrmann