Der amerikanische Freund

BR Deutschland Frankreich 1976/1977 Spielfilm

Ripley in den Städten

Hans C. Blumenberg, Die Zeit, 24.07.1977

Eine Häuserzeile am Hamburger Fischmarkt, Altbauten, noch nicht ganz zu Tode saniert, aber schon von der Zerstörung gezeichnet. Vor den Fenstern kreischen Möwen, auf die verwitterten Mauern sind Parolen gepinselt: "BRD Polizeistaat", "Rache für Holger Meins". In der Totale vom Hafen aus wirken diese düsteren Häuser wie eine unwirkliche Kulisse, wie gebaut für einen Horrorfilm. Hier wohnt der Bilderrahmer, Jonathan Zimmermann. Gegen Ende, als schon alles zu spät ist für Jonathan, sieht man eine stumme, kreisende Luftaufnahme der Gegend am Fischmarkt; eine Mondlandschaft. Diese kurze Einstellung, die ohne Vorwarnung und scheinbar ohne Anlaß eine Szene in Jonathans fast lichtloser Wohnung unterbricht, kommt wie ein Schock.

Die Metro-Station "La Défense" in Paris. Endlose Gänge, Rolltreppen, knallrote Plastiksessel für die Wartenden, grünliches Neonlicht, ein gigantisches, menschenleeres Science-fiction-Dekor, überwacht von Fernsehkameras. Der Bilderrahmer Jonathan Zimmermann aus Hamburg, der an einer seltenen Blutkrankheit leidet und nicht mehr lange zu leben hat, erschießt in der Metro-Station "La Défense" einen Mann, den er nicht kennt. Er hetzt, von niemandem verfolgt, durch das unterirdische Labyrinth. Man sieht seine Flucht auf den Bildschirmen der Kontrollstation, die Kamera schwenkt von Monitor zu Monitor, keine Bewegung bleibt unbeobachtet. Etwas später kommt, beiläufig, eine bunte Reklame von Radio Luxemburg ins Bild: Vous êtes jamais seul avec RTL.

Eine Stadtautobahn in New York, schäbige Gegend, schmutzige Häuser, Verkehrslärm, im Hintergrund die Wolkenkratzer von Manhattan. Tom Ripley, der Amerikaner, der auch in Hamburg einen Cowboy-Hut Trägt ("What"s wrong with a Cowboy im Hamburg?"), redet mit einem alten, weißhaarigen Mann, der eine schwarze Augenklappe in seinem Raubvogelgesicht trägt, Tom Ripley murmelt: "I"m confused." Der alte Mann sagt: "A little older, a little more confused." Tom Ripley balanciert auf einer Mauer, in der nächsten Einstellung beobachtet ihn, von einem Fenster aus, ein jüngerer Mann – "Watch your step, Cowboy" -, die Kamera fährt weiter zurück in die Wohnung, ein anderer alter Mann mit einem Raubvogelgesicht kommt ins Bild, dann ein Mädchen im Morgenrock, dann ein improvisiertes Filmatelier im Hinterzimmer. Hier werden Pornos gedreht.

Irgendwann fährt Tom Ripley, der wie ein Cowboy aussieht, durch die nächtlichen Straßen von Hamburg, von der Kamera frontal durch die Windschutzscheibe beobachtet, von seltsamen farbigen Lichtreflexen umspielt, einen Kassettenrecorder an sein Ohr gepresst. Er hört sich selber zu: "Ich weiß immer weniger, wer ich bin, oder wer irgend jemand anderer ist". In dieser Sequenz sieht er aus wie der Bruder des "Taxi Driver" Travis Bickle, den Robert De Niro für Martin Scorsese gespielt hat. In Hamburg wohnt Tom Ripley in einer alten Villa an der Elbchaussee, in der nur ein Billardtisch, eine Juke Box aus den fünfziger Jahren und ein Coca-Cola-Automat stehen. Über dem Billardtisch hängt eine Neonreklame der Firma "Canada Dry", die den Raum in ein fahles, giftig grünes Licht taucht.

Tom Ripley schläft in einem Bett, das mit roter Seidenwäsche bezogen ist. Dieses Rot, dunkel leuchtend, schillernd und ganz und gar künstlich, eine synthetische Kinofarbe, möglich nur durch die Meisterschaft von Kodak, erinnert an das Rot in den Filmen von Nicholas Ray: "Johnny Guitar", "Rebel without a Cause", "Party Girl". In "Johnny Guitar", dem Film mit den schönsten, weil unwirklichsten Farben der Filmgeschichte, hieß das Farbsystem "Trucolor", Nicholas Ray spielt den alten Mann mit der Augenklappe in New York. Wim Wenders hat seinen Film "Der amerikanische Freund" auf dem neuen modifizierten 35-mm-EASTMAN-Color-Negativ-II-Film 5247 von Kodak gedreht. Das scheint das "Trucolor" der siebziger Jahre zu sein, jedenfalls wenn man einen Kameramann wie Robby Müller hat.

Tom Ripley ist "Der amerikanische Freund". Von einer einzigen kurzen Bemerkung verletzt, schickt er Jonathan Zimmermann auf eine lange Reise, stellt ihm eine Falle, liefert den Sterbenden der Versuchung des großen Geldes aus. Jonathan, der bedächtige, unauffällige Durchschnittsbürger, gerät immer tiefer in mörderische Intrigen, die ein paar Nummern zu groß für ihn sind. Die Mafia kommt ins Spiel, Ripley ist verwirrt und macht sich zum Komplizen seines Opfers, das sich als bezahlter Killer verdingt hat, widerwillig, erschrocken und doch fasziniert. Als Ripley merkt, daß ihm seine Rolle als Fallensteller und Drahtzieher über den Kopf zu wachsen droht, mischt er sich ein, kommt Jonathan zu Hilfe.

Die Geschichte, ziemlich frei nach dem letzten Roman von Patricia Highsmith, "Ripley"s Game", den Wenders nur als Ausgangs- und Spielmaterial benutzt, spielt zwischen Hamburg, Paris und New York. Doch in Wirklichkeit gibt es nur eine einige Stadt in dem Film "Der amerikanische Freund", eine imaginäre Horror-Metropolis mit dem Namen hamburgparisnewyork. Rasche Schnitte verklammern die Schauplätze zu einer unheimlichen Einheit, zu einem zerstörten, zerstörerischen Ort, in dessen Winkeln, Tunneln und Betonburgen alles, aber auch wirklich alles, möglich scheint. In dieser Super-City, in der selbst noch der Fernsehapparat im Hotelzimmer ein feindseliges Eigenleben entwickelt, werden die Menschen krank und zu Mördern. Wenders zeigt den urbanen Alptraum, wie man ihn noch nie in einem europäischen Film gesehen hat: halb als uraltes, verkommenes Abbruchviertel, halb als futuristische Schreckenslandschaft. In einer Einstellung kommen die beiden Elemente zusammen: die Totale einer alten Pariser Kneipe vor einem blutroten Horizont aus Hochhäusern, ein surreales Panorama, dessen Bedrohlichkeit nur Martin Scorseses Vision von New York in "Taxi Driver" vergleichbar ist.
Diese Stadt mit ihren unwirklichen Farben, bizarren Formen und falschen Bewegungen beherrscht den Film so stark, dass die absonderlichen, jeder Alltagslogik spottenden Aktionen der Figuren nicht nur plausibel, sondern sogar zwingend notwendig erscheinen. Jene kontemplative Ruhe, die die Reise-Triologie von Wim Wenders präge ("Alice in den Städten", "Falsche Bewegung", "Im Lauf der Zeit"), ist einer untergründigen, selbst in Momenten der Erstarrung immer vorhandenen neurotischen Spannung gewichen. Auch noch in seiner Wohnung, einer dunklen Höhe, findet Jonathan Zimmermann keine Ruhe, wälzt sich unruhig, mit schmerzverzerrtem Gesicht im Schlaf, nur in seiner Werkstatt, von friedlichen Brauntönen umgeben, findet er für kurze Momente zu sich selber.

Die Geschichte des Bilderrahmers Jonathan Zimmermann, der unversehens aus seiner bürgerlichen Existenz gerissen wird und einen totalen Identitätsverlust erleidet, ist nicht nur eine Highsmith-, sondern auch und besonders eine Hitchcock-Geschichte. Es geht Jonathan wie Farley Granger in "Strangers on an Train" (auch nach einem Roman von Patricia Highsmith) oder Cary Grand in "North By Northwest". Wenders ist sich dieser Analogie bewusst, aber er versteckt sich nicht hinter Hitchcock, sondern macht sich dessen Lehren zunutze. Von Hitchcock stammt nicht nur die Figurenkonstellation, sondern auch die Lust an einer totalen Künstlichkeit. Sogar die Außenaufnahmen sehen oft so aus, als seien sie im Studio gedreht worden, und die spektakulärste Sequenz des Films, ein Doppelmord im TEE zwischen München und Hamburg, ist tatsächlich im Atelier entstanden: mit einer Rückpro-Technik, wie sie nur Hitchcock so perfekt und spielerisch beherrscht.

Auch die Montage scheint von Hitchcock beeinflusst: immer wieder schnelle, kurze Großaufnahmen von Objekten, schockartige Irritationen, die die Handlung akzentuieren, und ein Klima der Unsicherheit schaffen – eine Taxiuhr, eine Anzeigentafel, eine Metro-Fahrkarte, eine rote Lampe. Immer wieder Rot, die Signalfarbe des Films, Chiffre für Gefahr. Dazu Jürgen Kniepers wunderbar reiche Hitchcock-Musik, die Wenders offenbar so gut gefallen hat, daß er sie für meinen Geschmack etwas allzu häufig einsetzt. Dennoch: der längst zu einer beliebigen Reklamefloskel verkommene Satz, dieser Film sei so spannend wie einer von Hitchcock, trifft auf den "Amerikanischen Freund" tatsächlich zu.

Könnte man mathematische Formeln auf das Kino anwenden, gäbe es einen neuen Lehrsatz: Hitchcock plus Ray plus Scorsese = Wenders. Die Einflüsse des amerikanischen Kinos bleiben keine isolierten Zitate, sondern verbinden sich mit der in den drei letzten Filmen von Wenders formulierten Weltsicht zu einer neuen Einheit. Das Kino der Dreißigjährigen, lakonischer Pessimismus, ziellose Fluchtbewegungen durch kaputte Gegenden, quälende Identitätskrisen, die Angst vor Frauen, der Mythos der Männerfreundschaft, hier vollendet von Dennis Hopper (Ripley)und Bruno Ganz (Jonathan), die sich mit unsicherer Zärtlichkeit begegnen, die aus der Kollision zweier Darstellungsstile – Hopper ganz lässig, spontan, Ganz sehr diszipliniert, zurückhaltend – eine Dimension weiterer Verstörung gewinnen: A little older, a little more confused.

Mit dem "Amerikanischen Freund" ist Wenders eine Synthese gelungen, die das neue deutsche Kino dringender braucht als irgend etwas sonst: die Verbindung einer zwingenden persönlichen Vision mit einem kinematographischen Vokabular, das nicht nur ein kleines Publikum von Spezialisten erreicht. Die große Faszination dieses Films hat direkt mit seiner Vielschichtigkeit zu tun. Man kann ihn als pessimistischen Kommentar zur nachrevolutionären Bewußtseinskrise der späten siebziger Jahre verstehen, aber auch als brillanten Kriminalfilm, man kann ihn als urbanen Alptraum von der Zerstörung der Städte bewundern, aber man kann ihn auch als poetische Ballade einer Freundschaft lieben. Sein Reichtum, der nicht ohne Gefahren ist, erlaubt bei jedem Sehen neue Abenteuer, neue Entdeckungen. Ich habe den Film "Der amerikanische Freund" dreimal gesehen. Ich werde ihn noch oft sehen.

© Hans C. Blumenberg

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