Inhalt
Kristin Dibelius kann nicht begreifen, warum sich ihr Sohn David seit zwei Jahren in seinem Zimmer einschließt. Alle ihre Bemühungen, zu ihm durchzudringen, sind gescheitert. Das Leben in der gemeinsamen Dreizimmerwohnung ist zu einem gespenstischen Nebeneinander geworden, dessen Routine jäh erschüttert wird, als Kristin unerwartet ihre Stelle in der Bank verliert. Entschlossen, die unerträgliche Situation zu beenden, macht sich die alleinerziehende Mutter daran, die Motive für Davids verstörendes Verhalten zu ergründen. Überrascht entdeckt sie, dass er die Tür zur Außenwelt nicht komplett zugeschlagen hat. Über ein Internetforum für Drachenbau gelingt es Kristin, ohne sich zu erkennen zu geben, wieder mit ihrem Sohn in Kontakt zu treten.
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Alle Bemühungen Kristins, zu ihrem Sohn, den sie natürlich nicht allein in Hamburg zurücklassen kann, durchzudringen, sind gescheitert. Dem gespenstischen Nebeneinander in der kleinen Etagenwohnung kann sie nur kurzzeitig entfliehen beim Shoppen im Einkaufszentrum oder in der Fitness-Gruppe. Als sie beim Sport zusammenbricht, öffnet sie sich gegenüber ihrer Fitnesstrainerin, die professionelle Hilfe empfiehlt. Welche Kristin strikt ablehnt, da sie eine Einweisung ihres offenbar psychisch stark gestörten Sohnes befürchtet. Überhaupt zieht sie sich aus dem öffentlichen Leben immer mehr zurück, lässt auch den durchaus an ihr interessierten Bekannten ihrer Freundin Monika, den erfolgreichen Computerspezialisten Jeffery Biko, nicht an sich heran.
Als David im Bad ist, nutzt seine Mutter die Gelegenheit, einen Blick in dessen Zimmer zu werfen. Sie entdeckt nicht nur das rote Tuch des Drachens, das wie ein Baldachin von der Decke hängt, sondern auch, dass er sich im Internet-Portal Hyfly bewegt unter dem Pseudonym
„Goliath 96“. Flugs macht Kristin sich in einem Fachgeschäft schlau und taucht im Drachenforum unter „Cinderella 97“ auf. Bald ergibt sich ein reger Chat-Austausch zwischen Sohn und Mutter – mit geradezu gegenteiliger Wirkung: Während David, der sich in seine unbekannte Netz-Partnerin verliebt hat, allmählich ins Leben zurückkehrt, indem er seine Bude aufräumt, Körperpflege betreibt, seinen Vollbart abrasiert und die Muckis trainiert, kapselt sich Kristin in klassischer Nerd-Manier immer stärker ab. Sie leert die Tiefkühl-Truhe im Supermarkt wie im Kaufrausch, googelt Lieferdienste und lässt Bikos begehrte Elbphilharmonie-Karten verfallen. Als David im Videocall die Anonymität durchbrechen und sich mit Cinderella 97 in der wirklichen Welt treffen will, engagiert Kristin seine Ex-Freundin Fiona, damit diese ihre Rolle übernimmt…
In Marcus Richardts gut einhundertminütigem Spielfilm-Debüt, das Film am 4. Dezember 2020 auf Arte erstmals im Fernsehen lief, stehen zwanzig Jahre nach Katja von Garniers Gefängnisausbruchsfilm „Bandits“ deren beiden Blues Sisters Katja Riemann und Jasmin Tabatabai wieder gemeinsam vor der Kamera neben dem recht blassen deutsch-ecuadorianischer Schauspieler Nils Rovira-Muñoz. Entstanden aus persönlicher Betroffenheit des Regisseurs im Rahmen der Nachwuchsförderungs-Initiative Leuchtstoff von rbb und Medienboard Berlin-Brandenburg bringt „Goliath 96“ den Widerspruch zwischen der Rund-um-die-Uhr-Kommunikation im weltweiten Netz und der wachsenden Vereinsamung der Nutzer digitaler Medien auf den Punkt.
Der Regisseur und Co-Autor im ARD-Presseheft: „Vor einigen Jahren schien ein Mitglied meiner Familie mehr und mehr mit den Anforderungen seiner Außenwelt überfordert zu sein. Er zog sich immer weiter in sein Zimmer zurück, das er schließlich nur noch zur Nahrungsaufnahme und für existenzielle Notwendigkeiten und Bedürfnisse verließ. Das Internet wurde zum zentralen Lebensmittelpunkt. Mit Sorge, Wut und Hilflosigkeit verfolgten wir als Familie diesen Rückzug und wussten lange nicht, wie wir uns ‚richtig‘ verhalten sollten. Durch Geduld, viele Gespräche und Zusammenhalt schafften wir es schließlich, dass er sich wieder aus der selbst gewählten Isolation löste. Doch was wäre passiert, wenn es den familiären Zusammenhalt nicht gegeben hätte? Was, wenn alle Bemühungen und Gespräche ins Leere gelaufen wären? Was, wenn die Angst vor den Anforderungen der Außenwelt die Oberhand behalten und sich Isolation und Abkapselung vertieft hätten? Diese Fragen haben mich nicht mehr losgelassen und letztlich zur Zusammenarbeit mit Co-Autor Thomas Grabowsky am Drehbuch zu ‚Goliath96‘ geführt.“
Pitt Herrmann