Der Student von Prag
Der Student von Prag
Sind wir wirklich schon in der Ära der Neudrucke und Neuausgaben alter Filme? Haben die Autoren so versagt, daß man offen auf dieselben Motive zurückgreifen muß? Oder spekuliert man schon auf Film-Ästheten, die versnobt auf das filmhistorische "écho du temps passé!" fliegen – : so, wie man altes Meißner sammelt oder Rokokomöbel? Dann wäre dieser Film ein trauriges Symptom. Er ist es nicht. Als der erste "Student von Prag" erschien – es war wohl so um 1910 (tatsächlich 1913, Anm. d. Red.) –, erregte er zwar sensationelles Aufsehen; und doch war die Zeit noch nicht da, die wahrhaft geniale Eingebung, die hinter diesem Sujet steht, ganz zu überblicken. (...) Heute wissen wir, was uns eigentlich so tief erschüttert hat: im Film kann die Identität des Menschen gespaltet werden. Derselbe Mensch kann zweimal auf der Bühne stehen. Er kann gegen sich selbst kämpfen. Er kann sich selbst verführen. Er kann Dinge tun, die "Er" eigentlich gar nicht tut – sondern der zweite "Er", der Doppelgänger. Es gibt im Film die optische Möglichkeit, den ganzen Menschen, den "Menschen mit seinem Widerspruch" zu zeigen; das Unerklärliche am Menschen, das, was tiefer liegt als sein bewußter Wille. Inzwischen ist die Psychoanalyse erfunden worden; man nennt das heute das "Unterbewußtsein"; das alles hat der Film schon damals gezeigt. (...)
Vor sechzehn (tatsächlich dreizehn) Jahren war Wegener dieser finstere, nihilistische Student von Prag, der sein Spiegelbild an den Wucherer hergibt – der sein triebhaftes Wünsch-Ich über sich hinaustreiben, losgelöst von den Fesseln des bewußten Ich frei schweifen läßt, der durch diesen Sprung über das Ich hinaus erst in die Höhe gerissen, dann in die Tiefe geschleudert wird. Heute ist es Conrad Veidt. Und er ist sicher mindestens so prachtvoll wie sein Vorgänger. Er hat nicht die dumpfe, dunkle Verschlossenheit eines Gefängnisturmes; schon seine Gestalt zwingt ihn, anders zu sein, denn Wegeners monumentale, breite, geradlinige, turmähnliche Gestalt, mit dem Antlitz einer steinernen Götzenmaske darüber, ist hier zum schwankenden Rohr, zur neurasthenischen Verstörtheit geworden. Aber was weiß er daraus zu machen! Man ahnt von Anfang an Böses hinter dieser überheizten Energie der mühsam zusammengehaltenen Züge: es ist, als ob ein wildes Pferd unter der Kandare zuckend stillhielte. Und als der Sturm losbricht, ist es wahrhaftig die tiefe Verstörtheit dessen, der sich verloren hat und nicht mehr finden kann, der sich immer ganz nahe, zum Greifen nahe vor sich sieht und doch nicht mit Händen fassen kann, was aus diesen verstörten Zügen spricht. Es ist seine erste wahrhaft künstlerische Tat seit vielen Jahren. (...)