Inhalt
Ben sitzt für den Rest seines Lebens im Rollstuhl. Er ist fröhlich, intelligent und verzweifelt. Die Liebe kommt für Behinderte wie ihn nicht in Frage, das erklärt er zumindest seinem neuen Zivi Christian. Christian nimmt das Leben leicht: Er wird ein halbes Jahr bei Ben bleiben und dann seiner Wege gehen. Annika studiert Cello und hetzt durch ein Leben, das nur aus Üben und möglichst perfektem Vorspielen besteht. Sie fährt jeden Tag mit dem Fahrrad an Bens Wohnung vorbei, Ben schaut ihr jeden Tag vom Balkon aus sehnsüchtig hinterher, doch erst als sie eines Morgens mit Christian kollidiert, lernen die drei sich kennen und werden Freunde.
Zu dritt erschaffen sie sich eine eigene Welt. Dann verlieben sie sich, denn natürlich wollen beide Jungs mehr von Annika als nur Freundschaft. Annika kann sich nicht entscheiden. Sie mag Christian und seine Verspieltheit, aber so jemand wie Ben ist ihr noch nie begegnet – in jeder Hinsicht, denn er ist nicht nur ein interessanter Mensch, sondern sitzt auch noch im Rollstuhl. Was für alle drei wie ein Spiel beginnt, wird für Ben eine Reise zu seinen größten Ängsten, in Abgründe, aus denen er allein nicht mehr herausfinden wird.
Dietrich Brüggemann: "Zuneigung ist in unserer Welt eine Ware, die gehandelt wird. Welchen Wert habe ich selbst? Wie attraktiv bin ich? Für unseren Protagonisten stellen sich diese Fragen in der denkbar härtesten Form. Ich wollte der Frage nachgehen, ob man durch die Kraft der Ideen seine physischen Beschränkungen überwinden kann – eine Frage, die eng mit der Natur des Kinos verknüpft ist."
Quelle: 60. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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Schon geraume Zeit beobachtet Ben vom Balkon seiner Wohnung aus, wie die attraktive Studentin Annika, die in der Duisburger „Platte“ gegenüber wohnt, mit dem riesigen Cello-Kasten auf den Schultern balancierend zur Musikhochschule radelt. Bis es kracht – beim Ausweichmanöver, um nicht mit Christian zusammen zu donnern, der gerade auf dem Weg zu seiner neuen Zivi-Stelle bei Ben ist. So kommt sich das nur auf den ersten Blick so ungleiche Trio rasch näher, zumal Christian ihr Fahrrad repariert und die beiden Jungs es ihr auch noch in Bens dollem Amischlitten, dem zumindest europaweit einzigen Pontiac Bonneville mit Handgasantrieb, vorbeibringen.
Beim Sternschnuppen-Gucken zu dritt auf Bens Hollywood-Schaukel hat jeder einen Traum frei, und der des Gastgebers wird sogleich erfüllt: Einmal hoch oben vom Bottroper Tetraeder auf das Lichtermeer des nächtlichen Ruhrgebiets blicken. Ohne Aufzug ein Kraftakt für alle Beteiligten, der bei Annika schmerzhafte Folgen hinterlässt: Sie ist beim Semestervorspiel zwar nur das „Tutti-Schwein“, während in Johannes Brahms' Cellokonzert ihre WG-Mitbewohnerin Mareike den Solopart spielen darf, doch mit einer Sehnenscheidenentzündung ist nicht zu spaßen. Es braucht seine Zeit – und eine dramatische Rettungsaktion im Eis eines doch nicht gänzlich zugefrorenen Sees, bis Ben begreifen lernt, dass er sich als körperlich Behinderter nichts herausnehmen darf bei seinem Hochschullehrer und bei richtigen Freunden wie Christian und Annika schon gar nicht, dass es ihm im Gegenteil ohne den Rolli-Mitleids-Bonus viel besser geht...
In Dietrich Brüggemanns Debütstreifen steht ein Trio großartiger junger Schauspieler im Zentrum, die kaum älter sind als der frischgebackene Absolvent der Potsdamer Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“: Robert Gwisdek und Jacob Matschenz verlieben sich in die gleiche Frau, die Ko-Autorin und Schwester des Regisseurs Anna Brüggemann. „Renn, wenn du kannst“ ist eine vorzüglich gespielte, in weiteren Rollen sind u.a. Leslie Malton als Bens Mutter, Jörg Bundschuh und Sven Taddicken zu sehen, mit ungemein lakonisch-trockenem Humor inszenierte tragikomische Dreiecks- und Coming-of-Age-Geschichte, die sich über sämtliche Rolli-Tabus von Viagra bis zur Penis-Pumpe mit einer beschwingten Leichtigkeit hinwegsetzt, dass man daran zweifelt, ob es sich tatsächlich um eine deutsche Kino-TV-Koproduktion handelt.
Stimmt schon: Das allzu klattrige Ende muss aus diesem Gesamtlob ausgenommen werden, das riecht denn doch zu sehr nach dem Angstschweiß in den Redaktionsstuben der Fernsehanstalten. Andererseits: Bis dahin sind knapp zwei wunderbar leichte, stets unterhaltsame Stunden vergangen voller unaufdringlicher Normalität. Anna und Dietrich Brüggemann, deren jüngere Schwester selbst auf den Rollstuhl angewiesen ist, erzählen die an überraschenden Wendungen reiche Geschichte bei allem pointierten Dialogwitz immer wieder auch sehr einfühlsam, aber ganz ohne Larmoyanz. Jedenfalls findet Lisa, die nach einem halben Jahr Christian ablöst, einen ganz anderen Ben vor...
Preise gabs für die am 8. Februar 2012 auf Arte erstausgestrahlte Tragikomödie reichlich: beim Filmfest Emden-Norderney 2010 den NDR-Nachwuchsfilmpreis für Dietrich Brüggemann, beim Festival des deutschen Films in Ludwigshafen 2010 den Publikumspreis und den Filmkunstpreis für Robert Gwisdek, beim Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern 2010 den Nachwuchsförderpreis der Defa-Stiftung sowie den CineStar Award.
Pitt Herrmann