Höllentour
Höllentour
Detlef Kühn, epd Film, Nr. 6, 03.06.2004
Wer die Tour de France kennt, und sei es auch nur aus dem Fernsehen, der weiß: Dieses gigantische Radrennen ist eine einzigartige sportliche Herausforderung, ein Spektakel, das den Olympischen Spielen und der Fußballweltmeisterschaft Konkurrenz macht. Die 1903 zum ersten Mal ausgetragene Tour de France wird auch Tour der Leiden genannt. Und so ist es nahe liegend, dass Pepe Danquart den Fokus seiner Dokumentation "Höllentour" auf eben dieses Leiden gelegt hat. Nicht Siegerposen bestimmen das Bild, sondern harte Arbeit, Momente der Konzentration und Anspannung, der Erschöpfung und der Schmerzen. Pepe Danquart dokumentiert die Tour de France 2003 überwiegend aus der Perspektive zweier deutscher Fahrer: Erik Zabel und Rolf Aldag vom Team Telekom. Sie teilen sich ein Zimmer und sind im Laufe einiger gemeinsamer Jahre bei der Tour zu Freunden geworden.
"Höllentour" präsentiert natürlich auch bekannte Bilder: Die im großen Feld dahinjagenden Fahrer, die mit ihren futuristischen Sturzhelmen wie ein Schwarm Außerirdischer wirken. Die gefährlichen Massensprints bei den Flachetappen. Die Qual in den Bergen und die riskanten Abfahrten mit Tempo 100. Man sieht die entscheidenden Szenen der Tour 2003: den Sturz des spanischen Mitfavoriten Beloki, Lance Armstrongs Querfeldeinfahrt über ein abgeerntetes Feld, seinen Etappensieg in den Bergen vor Jan Ullrich, schließlich Ullrichs alles entscheidenden Sturz in einer regennassen Kurve beim letzten Zeitfahren.
Aber vor allem sieht man Erik Zabel und seinen Helfer und Freund Rolf Aldag. Sie sind stoische Tour-Helden, die schon alles erlebt haben. Vorsorglich rasieren sie täglich ihre Beine: wegen der besseren Wundversorgung im Falle eines Sturzes. "Nur die Besten überleben", sagt "Eule", ihr Masseur. Und Zabel sagt: "Es gibt Tage, da macht es Spaß. Das sind Festtage. Aber es gibt Tage, da gehst du durch die Hölle." So wird es für die beiden auch diesmal wieder sein. Zunächst aber erwischt es ihren Teamkollegen Andreas Klöden. Er gehört gleich zu Beginn zu den "Schlachtopfern", wie es Rolf Aldag nennt. "Klödi, die arme Sau" hat Gesichtsprellungen, Hautabschürfungen, ein kaputtes Steißbein und Blutergüsse am ganzen Körper. Auch "Eeeriik Sabèl", der Sprintkönig der letzten Jahre, dem bei dieser Tour kein Etappensieg gelingen will, wird bald zum Opfer. Vom treuen Helfer "Eule" lässt er sich nach einem Sturz die gerade verschorfte Beinwunde mit einer Bürste wieder öffnen: zum Ausbluten. Kumpel Aldag bedauert ihn wegen seines lädierten Handgelenks. Aber Zabel frotzelt die Sorgen weg: "Das ist der Unterschied. Als du letztes Jahr die Rippen gebrochen hattest, war mir das scheißegal."
Dass es bei der Tour um viel Geld geht und auch immer wieder um Doping, interessiert Danquart nicht. "Höllentour" ist in erster Linie ein Lob der menschlichen Leidensfähigkeit, Willenskraft und Selbstüberwindung. Der französische Tour-Historiker Serge Laget bringt bei Rückblicken in die 100-jährige Tour-Geschichte Nietzsches Idee des Übermenschen ins Spiel. Ein radsportbegeisterter Pfarrer sieht im Leiden der Fahrer die religiöse Dimension der Liebe aufleuchten. Wenn der immer mutloser werdende Erik Zabel nach den Etappen auf der Massagebank liegt, sind seine Augen so ruhig wie die eines selbstversunkenen Mönchs. Am Ende, nach der Zielankunft in Paris, zeigt Danquart seine beiden Helden erschöpft auf ihre Räder gestützt: auf einer menschenleeren Straße, jeder für sich – ganz allein.