Lili Marleen

BR Deutschland 1980 Spielfilm

Verstimmtes Klavier

"Lili Marleen": ein Film der Roxy von Rainer Werner Fassbinder


Wolfram Schütte, Frankfurter Rundschau, 17.01.1981

Dieser Untertitel ist der Zeitungswerbung des Deutschen Taschenbuch Verlags (dtv) für das Buch: "Lale Andersen: Leben mit einem Lied" entnommen. Es erscheint gleichzeitig mit dem Film, dessen Drehbuch darauf beruht. Multimedia-Strategie, eine bekannte amerikanische Errungenschaft. Zu ihr gehört auch, daß bereits alle Welt weiß, worum es in dem Film geht: Lale Andersen, die während der Nazi-Zeit mit dem Lied "Lili Marleen" über alle Fronten hinweg berühmt wurde, hatte einmal ein Liebesverhältnis mit Rolf Liebermann, der weniger als Opernkomponist denn später als Opernhaus-Leiter in Hamburg und Paris berühmt wurde. Es fehlte jetzt nur noch, daß Liebermann im "Spiegel" Fassbinders "Lili Marleen" rezensierte. Denen ist der Publicity-Wunsch zuzutrauen, ihm jedoch kaum dessen Erfüllung. Man wird ja sehen.

Sehen kann man ab heute in hundert Kinos der Bundesrepublik, was Fassbinder aus dem Stoff gemacht hat. Der Massenstart, ein Großangriff im Stil der amerikanischen Verleihstrategie, soll kurzfristig hier teilweise hereinholen, was in das Objekt international investiert wurde. Die 10 Millionen DM Produktionskosten (seit UFA-Zeiten soll kein deutscher Film mehr soviel gekostet haben wie dieser über die UFA-Zeit) sind für die Promotion ein Lockmittel. Konsumideologie heute: was viel kostet, muß ja auch was sein, wer viel ausgibt, bietet auch viel. Verschwendung als Qualitätsversprechen, Kapitalakkumulation als Bombardement von Liebesblicken, Ware mit teurer Reizwäsche.

Die Geschäftskalkulation ist nicht ohne. Das Lied kennen Millionen, mehr als eine Generation sättigt daran Landser-Nostalgie, und wer sie nicht kennt, schmeckt sie nach. Für sentimentale Momente harter Männer: immer abrufbereiter Traumkitsch. In diesem Pausenzeichen der Barbarei schlägt die richtige Sehnsucht falsch die Augen auf.

Aber das Lied und seine mythologische Aura ist nur ein Posten in der Kalkulation. Der andere: die Trivialisierung des Königskinder-Topos: sie konnten nicht zueinanderkommen, das Wasser war zu tief. Der immer wieder intonierte Trennungsschmerz des Lieds reimt sich auf die Herzensangelegenheiten der Liebesleute Wilkie (Hanna Schygulla) und Robert (Giancarlo Giannini) in Zürich 1938. Sie ist eine naive untalentierte Sängerin, er ein talentierter Musiker; sie eine Deutsche mit "arischem Stammbaum bis ins Mittelalter", er ein emigrierter Jude, der im Auftrag einer jüdischen Hilfsorganisation, an deren Spitze sein Vater (Mel Ferrer) steht, mit gefälschten Papieren gefährdete Menschen und Kapitalien aus Deutschland schmuggelt.

Dritter Reizposten: Morbidezza und Grandeur des Nazismus, seiner Uniformen und sadomasochistischen Halbwelt-Dämonen, seiner Massenvergnügungen und Show-Inszenierungen – in absteigender Linie von Viscontis "Götterdämmerung" über den "Nachtportier", "Cabaret" und "Salon Kitty" bis heute. An Viscontis "Götterdämmerung" und Pasolinis "Die 100 Tage von Salò" gemessen, ist alles, was danach kam: nichts. Und wo Fassbinder in der "Lili Marleen" den Vergleich mit Viscontis Film sucht (in seiner "Fronttheaterszene" mit dessen SA-Orgie) und ihn mit Pasolinis "Salò" provoziert (wenn die Menschen wie Vieh als Nackte inspiziert werden): da scheitert er an seiner Ungeduld.

Was hat ihn an dem Stoff, zu dem er spät erst gekommen ist und den er mit Manfred Purzer umschrieb – dem Drehbuchschreiber des Roxy-Produzenten Luggi Waldleitner, dem Möchtegern-Regisseur ("Das Netz" und "Mann im Schilf") mit katastrophalem Ergebnis, dem zeitweiligen Vorsitzenden der "Projektkommission", in welcher Funktion er zwar Fassbinders "Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond", aber nicht seine eigenen und Waldleitners Drehbuch-Projekte verhinderte –: was hat Fassbinder an der "Lili Marleen" gereizt? Er hat erklärt: die Geschichte einer großen Liebe, die deswegen eine ist, weil sie nicht stattfindet; die Frage: wie man in einem Regime wie dem NS-Staat überleben kann, ohne Mitläufer zu sein; und ob man als Künstler in einem solchen Regime Karriere machen darf and soll, weil man sich für einen Künstler hält.

Das sind Fragen individueller politischer Moral. Sie wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit von jenen, die ins Exil gegangen waren oder hatten gehen müssen und innerhalb oder außerhalb Deutschlands im Widerstand gearbeitet hatten, eindeutig beantwortet. Ihr Nein war begründet in Tat und Wort. Aber die moralische Überlegenheit der Dissidenten und Exilierten wurde nie von der überwältigenden Mehrheit angenommen, die dageblieben, mitgemacht, mitgelaufen war oder sich bloß durchgewurschtelt hatte. Der Streit zwischen Thomas Mann und Frank Thieß über die "Innere Emigration", die jahrelange Diskussion über die "Kollektivschuld", die niederträchtige Polemik gegen Willy Brandt: es waren fortdauernde Virulenzsymptome einer unausgetragenen deutschen Krankheitsgeschichte, ein Jahrzehnt überdeckt (oder bloß im Zaum gehalten?) durch die geistige Dominanz der Linken und die politische Macht der sozial-liberalen Koalition.

In einer geistigen und politischen Krisensituation wie der gegenwärtigen tritt nicht nur der Neofaschismus einer jungen Generation überall im Westen so aggressiv und mörderisch hervor wie kaum zuvor; sondern das unleugbare Schwinden eines politisch-moralischen Konsenses und der Utopie-Verlust hinterließen eine Leere, in der sich schon seit geraumer Zeit das Pathos individueller Existenz im Zeichen politischer Ohnmacht ausgebreitet hat.

Das ist zweifellos Fassbinders Domäne. Wie zu leben sei; ob es ein Leben vor dem Tod denn gebe; ob Liebe eine Illusion oder eine mögliche Realität sei; ob man sich aus dem allgemeinen Unheil heraushalten, ob man seine Unschuld bewahren könne; ob man schließlich als Künstler sich narzisstisch verwirklichen könne und dürfe: – es ist die Gefühls- und Gedankenwelt seines gesamten Oeuvres: von "Liebe ist kälter als der Tod", über die "Heilige Nutte" bis zum "Alexanderplatz". Nirgendwo hat er seine Welt und seine Fragen an sie subtiler, detaillierter, widersprüchlicher, reicher ausgebreitet als in den 14 Stunden der Döblin-Adaption.

Wendet man von dort den Blick auf die "Lili Marleen", so ist einem, als wechsele man von einem tropischen Dschungel des Lebens in ein kalttemperiertes Wachsfigurenkabinett, von der Plastizität, Vielstimmigkeit und der Liebe zu Menschen in die flächige Brutalität des Comic-Strips und seiner Figuren. War die Döblin-Adaption ein Film, der von innen heraus glühte und mit Empathie erzählt wurde, so erscheint einem die "Lili Marleen" wie ein blendendes Mosaik vereister Glasscheiben, hinter denen nichts ist. Doch: die Ikonografie, die Film-Gefühls-Grammatik der reichsdeutschen Ufa.

Denn mögen in dem Stoff und dem Projekt viele Strategien stecken ("ein Film der Roxy"), so enthält er auch eine Gegenstrategie ("von Rainer Werner Fassbinder"). Das kreuzt sich in dem Produkt höchst zweideutig. Das schleichende Gift, das die herzzerreißende Geschichte von Liebe und Verzicht, von hoher und niederer Kunst, von bösen jüdischen Vätern und bösen SS-Leuten, von Trennung und Wiedersehen, Sportpalast-Show und Geiselaustausch, Fronttheater und Partisanenbesuch, von Karriere und Widerstand durchtränkt, lagert sich in den Bildern selbst ab, und unterlegt der Marzipan-Süßigkeit des Kitschs den Mandelgeschmack winziger Dosen Zyankalis.

Ein Muster für diese Form bewußter Affirmation ist jene Szene, in der die Gestapo Robert mit einer Lili-Marleen-Platte foltert, die einen Sprung hat und ununterbrochen die Zeile "... wollen wir uns da wiedersehn" repetiert. Ein Ufa-Repetitorium mit kleinen Bruchstellen, minimalen Rissen. Der volle Griff ins Ufa-Repertoire (und das des Melodrams) reicht bis zu solchen Miniszenen wie dem ewig verzückt lauschenden, warmherzig schwyzerduetschenden Opernhaus-Portier oder dem dramatischen Telefonat vom Krankenbett aus; nichts fehlt: weder der schmachtende Jüngling noch der nervöse Gestapo-Typ, weder der hochgeschlagene Mantelkragen, noch das Narbengesicht und auch nicht der zärtlich-glückliche Blick der vergessenen Geliebten aus der Garderobe auf den erfolgreichen Mann im Rampenlicht: Trivialitäten und Klischees wie selbstverständlich und fugenlos von überall aneinanderzitiert.

Offenkundiger wird Fassbinders zynische Ästhetik der Künstlichkeit und des Zitats, wo er einen Sportpalast-Auftritt Wilkies dem Pathos des "Wunschkonzerts" nachbildet und dem "Lili-Marleen"-Refrain Bilder des "über allen Fronten ist Ruh" (aus der "Steiner"-Verfilmung!) unterlegt, und dann in die Blumenovationen für den Star Geschützfeuer, Flammenwerferangriffe und zerfetzt durch die Luft fliegende Körper (auch aus "Steiner") hineinschneidet. Sarkastisch ist auch sein Kommentar zu Wilkies unverhoffter Karriere: in der vom Führer geschenkten Wannsee-Villa robbt ihr besoffener Begleiter Taschner (Hark Bohm) wie ein Hund auf Wilkie zu und krakeelt die absurde Wahrheit heraus: daß ein schlechter Musiker und eine Sängerin, die nicht singen kann, durch die Geschmacklosigkeit der Zeit zu Ruhm und Geld kommen.

Als höhnische Reverenz an den Kriegsfilm à la "Steiner" sehe ich auch die Geiselübergabe in einer wildromantischen Wolfsschlucht oder wenn der an die Front strafversetzte Taschner seine versprengten Männer, von den "Lili Marleen"-Klängen angelockt, den "deutschen Kameraden" zuführen will, sie aber direkt ins gegnerische Mündungsfeuer treibt, und mit dem Satz auf lächelnden Lippen stirbt: "Ach, auch die Russen..."

Das ästhetische Verfahren der "Lili Marleen", vergleichbar einem Pedalspiel sterotypischer Melodien auf einem geringfügig verstimmten Klavier, entspricht der Fremdbestimmung, der das Sujet durch seine Kolportage-Strukturen und der die Figuren durch die Zeit unterworfen sind. Totale Manipulation, Imitation von Leben, Betrug der Gefühle, Selbstbetrügereien; am deutlichsten, wo Hanna Schygulla, die dem "positiven" Melodram "Die Ehe der Maria Braun" die Kraft einer unzerstörbaren, obsessiven Emotion gab, als Wilkie in diesem "negativen" Melodrama dem ihr zugefallenen Mythos des Lieds (und dem, was vom Publikum in es an Gefühlen projeziert wurde) bloß nachsteigt, sich ihm ohne Erfolg anzugleichen sucht: Sie bleibt das naive deutsche Blondchen – aber keine "Mieze" wird je aus ihr, und von der "Maria Braun" der Nachkriegszeit ist sie weit entfernt.

Ein zwiespältiges Film-Stück, auf der Kippe, mit trügerischem Kalkül. Offene Mitläuferei und geheimer ästhetischer Widerstand? Ein excercise du style? Locken – auf einer Glatze gedreht?

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