Willi Karow, Kommunales Kino im alten Wiehrebahnhof (Freiburg i.Br.)

Zum Kinomacher bin ich ganz allmählich geworden, ohne es zunächst zu merken. Es gab aber natürlich ein paar Voraussetzungen; ich hätte es mir denken können... Zu diesen Voraussetzungen gehört als erstes, unabdingbar, die Liebe zum Kino. Sie ist beides: eine Liebe zum Film und eine Liebe zum Kino als dem Ort, am dem "es", nämlich das Andere sich ereignet. Da sitzt man im dunklen, abgeschirmten Raum für sich und starrt trotzdem gemeinsam mit anderen fasziniert, fiebernd, angespannt, freudig erregt, von Entsetzen gepackt, hingerissen oder vermeintlich nüchtern auf das hell erleuchtete Viereck, die Leinwand – eine Situation, die oft und immer wieder mit Enthusiasmus beschrieben worden ist: die "Funktion des Kinos als Ort der Geborgenheit, aber auch des Exils", wie Thomas Elsaesser formulierte. Ob die Generation, die mit TV und DVD aufgewachsen ist, das noch nachvollziehen kann? Ich hoffe es... Für mich sind Filme Reisen. Reisen ins Unbekannte, aber auch ins Vertraute, zum Beispiel ins Vertraute eines Genres. Reisen, als Flucht vor dem Alltag in die Träume, Visionen anderer. Reisen als Spiegel der eigenen Befindlichkeit. Reisen, die einen mit der eigenen oder, häufiger und aufschlussreicher, mit der Realität der anderen konfrontieren. Reisen zu neuen ästhetischen Ufern, um die in einem jeden steckende Sehnsucht nach Schönheit (wie immer man sie definiert) zu befriedigen. Mit den Worten Edgar Morins: "Die Identifikation mit dem Ähnlichen und die Identifikation mit dem Wesensfremden werden also beide durch den Film erregt." 

 
Quelle: Kommunales Kino Freiburg, © Telemach Wiesinger
Das Kommunale Kino im alten Wiehrebahnhof
 

Zum Kinomacher wird man nicht geboren. Man wird auch nicht dazu erzogen; eine Ausbildung gibt es nicht. Um Kinomacher eines Kinotyps zu werden, wie es die kommunalen Kinos sind, bedarf es einer ganz besonderen Situation: Die Kinolandschaft ringsum muss einer öden Savanne gleichen, ausgetrocknet, unergiebig. Eine Situation, in der es unmöglich ist, die Filme zu sehen, von denen man gehört, über die man gelesen hat, die irgendwo existieren, die aber keiner zeigt, die man aber endlich unbedingt sehen will. Eine solche Situation herrschte Ende der 1960er, Anfang der 70er Jahre. Keine Filmgeschichte in den Häusern, die man zu Schuhschachtelkinos umgebaut hatte, wenn sie überhaupt noch existierten. Keine Nouvelle Vague. Kein Junger Deutscher Film. Es war eine unruhige Zeit, eine Zeit des Aufbruchs, eine Zeit des Versuchs, die als erdrückend empfundene Erstarrung der Adenauer-Ära aufzubrechen. Auch eine Zeit, in der verkündet wurde, dass alles Private öffentlich sei. Nun, was lag da näher, als die eigenen Wünsche zu öffentlichen zu erklären: Man wollte andere Filme sehen, nicht den Schrott, der einem tagtäglich angeboten wurde, wollte andere Kinos, nicht diese Schuhkartons, und wollte diese anderen Filme, die ganz neuen und die ganz alten und die aus Frankreich und jene aus England, auf andere Weise vorgeführt sehen – in Reihen, in Retrospektiven, so dass Zusammenhänge sichtbar würden, und da sich niemand fand, der das zu bewerkstelligen bereit gewesen wäre, machte man sich selbst an die Arbeit: Alle sollten sehen dürfen, was man selber sehen wollte. Zuweilen sogar: Alle sollten es sehen müssen. (Was aber vielen keineswegs gefiel.) Ja, wir hatten einen starken pädagogischen Impetus, wollten das Filmesehen zu einem kommunikativen Ereignis machen, hatten, je nach Couleur, unsere stärker cineastischen oder stärker politischen Ambitionen dabei. Gewinn sollte keiner erwirtschaftet werden. Wir waren die "Nichtgewerblichen". Kostendeckung genügte. Die Idee eines Gemeindekinos existierte bereits in den 1920er Jahren. Die 1950er waren die große Zeit der Filmclubs, oft Jugendfilmclubs. In denen wurden – vor einem geschlossenen Publikum – 16mm-Kopien gezeigt. Das erste Kino dieses neuen Typs war das Berliner "Arsenal", das 1963 seinen Betrieb aufnahm. Es blieb zunächst aber singulär. Erst als Ende der 1960er Jahre in Duisburg ein Filmforum als Unterabteilung der dortigen VHS und in Frankfurt ein städtisches Kino eingerichtet wurden, fing es allenthalben an zu brodeln. Nicht nur in Großstädten, auch an kleineren Orten fasste die Idee schnell Fuß. So entstanden in den 1970er Jahren an zahlreichen Orten "kommunale" Kinos, selten als städtische Einrichtungen, vielfach den Volkshochschulen angegliedert (vor allem in Nordrhein-Westfalen) oder als Verein wie in Baden-Württemberg. Dort machte Stuttgart den Anfang, Freiburg folgte. Das war 1972. Und 1973 gab es die erste Vorstellung ( in der Aula einer Schule): Niklaus Schillings Film "Nachtschatten" – in Anwesenheit des Regisseurs und der Hauptdarstellerin, bei vollem Saal und mit vielen kopfschüttelnden Zuschauern, die der ungewohnten Ästhetik des Films wenig abgewinnen konnten.

Quelle: Kommunales Kino Freiburg
Der Kinosaal
 

Es dauerte noch sieben Jahre – Jahre des Ringens um Anerkennung durch die Stadt, Jahre des provisorischen Herumziehens mit einem 16mm-Projektor –, bis ein eigenes Kino zur Verfügung stand, in einem stillgelegten Bahnhof, von der Gemeinde für unsere Zwecke eingerichtet. Nun endlich konnten wir zeigen, was wir wirklich drauf hatten, und aus mir, einem ehrenamtlich tätigen Kinomacher, war unversehens, aber nicht unerwartet ein hauptamtlicher geworden. Im Gedächtnis bleiben, denkt man zurück, vor allem die Widerstände, die man hat überwinden müssen. Die aber auch in den Folgejahren immer wieder neu zu meistern waren, es auch jetzt noch sind. Nur dass meine Nachfolger sich ihnen nun zu stellen haben. Widerstände, die manchmal Frust, häufig aber auch Ansporn waren und sind. Das undankbare Publikum will ich erwähnen, das wieder mal eine mit Mühe aus der See gefischte Perle nicht würdigen wollte. Aber dasselbe Publikum kann einen jauchzen machen, wenn es unerwartet in Scharen herbeiströmt. Frustrierender noch sind die Grenzen, an die man bei der Recherche immer wieder stößt, wenn die hochfliegenden Pläne mal wieder zu Nichts zerstieben. Welch ein Glück aber, wenn eine schon verloren geglaubte Kopie wider Erwarten doch noch zu haben ist. Nervig der ständige Rechtfertigungsdruck, dem auch nach dreißig Jahren die kommunalen Kinos immer wieder ausgeliefert sind. Als hätten sie nicht längst bewiesen, wie unentbehrlich sie für die Kinokultur im Lande sind. Die Ignoranz lokaler Politiker kann unglaublich sein und sie zeigt sich vor allem dann, wenn wieder mal Einsparungen angesagt sind. Ein kommunales Kino zu betreiben ist sowohl zeitlich als auch finanziell ziemlich aufwändig. Das beginnt bei der Technik: Neben dem üblichen 35mm-Format sollen auch S8 und 16mm vorführbar sein. Auch Video, neuerdings DVD. Und für die 35mm-Projektion sind zwei Projektoren unentbehrlich (denn manche wertvollen Kopien dürfen nicht gekoppelt werden). Es darf auch eine eingebaute stufenlose Geschwindigkeitsregelung nicht fehlen, denn man will auch Stummfilme zeigen, und das in der angemessenen Geschwindigkeit. Versteht sich, dass es für die Projektion der unterschiedlichen 35mm-Formate verschiedene Objektive geben muss. Auf das Tonsystem will ich gar nicht erst zu sprechen kommen.

Quelle: Kommunales Kino Freiburg, © Telemach Wiesinger
Der alte Wiehrebahnhof
 

Aufwändig sind die Recherchen. Langwierig zuweilen. Denn das gängige Angebot der bekannten deutschen Verleihfirmen, das üblicherweise und vorwiegend der kommerziellen Auswertung vorbehalten bleibt, abzurufen, damit ist es bei einem kommunalen Kino nicht getan. Das hat den Ehrgeiz, Filmgeschichte zu präsentieren, Abseitiges vorzustellen, Fernes (aus dem Ausland) heranzuholen, Experimentelles und Dokumentarisches ins Programm zu nehmen. Mitunter telefoniert man tagelang einem einzigen Film hinterher. Und wird der Regisseur eventuell eingeladen? Oder ein Referent? Gibt man selbst eine Einführung? Welches Informationsmaterial stellt man dem Publikum zur Verfügung? Wo nimmt man es her; wer verfasst es? Außerdem ist man längst zu einer Auskunftei geworden: Da will einer eine Arbeit schreiben, ein anderer vielleicht eine Quizfrage beantworten können. Dass man selbst ständig informiert bleibt, selbst ständig im Kino hockt, sozusagen der beste Kunde seines eigenen Kinos, versteht sich von selbst. Und natürlich auch, dass man antichambriert, bei städtischen Behörden und bei Gemeinderäten, und nicht allein deshalb ist zudem ein gutes Verhältnis zur Presse wichtig. Dem Programm soll man die Mühen seines Zustandekommens nicht ansehen. Es gebe sich als eine fröhliche, nachdenkliche, ernste, die Schaulust anregende Mixtur aus Filmgeschichte, Filmreihen und Neuentdeckungen, zuzüglich einiger Sonderreihen wie ein Kino für Kinder oder ein Kino avantgarde. Mit der Zeit haben sich drei Säulen herausgebildet, auf denen die Programmgestaltung ruht: Das, was man selber entwickelt, als Verein, als Programmausschuss; das, was man angeboten bekommt von "verwandten" Kinos oder vom "Bundesverband für kommunale Filmarbeit", dem Dachverband; das, was man in Kooperation mit Gruppen vor Ort – politischen Gruppen, der Universität, dem Theater, Museen, dem italienischen Kulturverein beispielsweise – erarbeitet und zusammenträgt. Das ist, um mit Goethe zu sprechen, die Dauer im Wandel, denn selbstverständlich ändern sich die eigenen Vorlieben ebenso wie die des Publikums. Vorbei ist etwa die Zeit der heißen endlosen Diskussionen; heute liebt man eher eine intime Atmosphäre, das Gespräch im kleinen Kreis; dem trägt ein Café Rechnung, das dem Kino angegliedert ist.

Quelle: Kommunales Kino Freiburg, © Telemach Wiesinger
Der Wiehrebahnhof im Schnee
 

Im Laufe der Jahre hat sich vieles geändert. Die Kinolandschaft ist wieder vielfältig. Auch wenn ich mich an Multiplexe bis heute nicht habe gewöhnen können: Immerhin sind die Schuhschachtelkinos verschwunden, und das Angebot in den gewerblichen Kinos gibt sich offen und manchmal sogar innovativ. Das zwingt die kommunalen Kinos, neue Wege zu gehen, andere Filme zu entdecken (daran hat sich also nichts geändert), andere Darbietungsformen zu entwickeln (auch daran nicht), alles in allem demnach: die Grundzüge der Programmstruktur sind die gleichen wie vor dreißig Jahren, und ich denke, dass sich daran nicht viel ändern wird. Auch wenn die Technik weiterhin rasante Fortschritte macht und man vielleicht bald nur noch DVDs wird abspielen können. Der Anspruch eines kommunalen Kinos als Bewahrer der Filmkultur, als visuelles Museum für Filmgeschichte, als Ort der Darbietung neuer filmischer Formen und Inhalte sollte nicht aufgegeben werden. Obwohl wir in einer Zeit leben, in der die ökonomischen Interessen die kulturellen zunehmend torpedieren. Das muss aber nicht so bleiben. Es wird auch in Zukunft genügend Menschen geben, die es nicht lassen können, im dunklen Kinosaal zusammen mit anderen und doch jeder für sich auf eine Lichtbildreise zu gehen. Mit Susan Sontag zu sprechen: "Dass ich mich ausgiebig mit der Geschichte des Kinos befasste, verstärkte nur meine Dankbarkeit angesichts bestimmter neuer Filme, die ich (zusammen mit meinen Lieblingsfilmen aus der Stummfilmzeit und den 30er Jahren) immer wieder sah, dermaßen begeisternd wirkten sie auf mich in ihrer Freiheit und dem Erfindungsreichtum des erzählenden Vorgehens, ihrer Sinnlichkeit, ihrem Ernst, ihrer Schönheit."

Willi Karow ist Mitbegründer, Geschäftsführer und von 1982-1996 Hauptamtlicher Leiter des Kommunalen Kino im alten Wiehrebahnhof (Freiburg i. Br.).