Inhalt
Schauplatz ist ein osteuropäisches Ghetto im Jahr 1944. Jakob möchte seinen Leidensgefährten angesichts des Vormarsches der Roten Armee Hoffnung machen. Im Dienstraum der Gestapo hatte er entsprechende Meldungen aufgeschnappt. Jakob behauptet nun, heimlich ein Radio zu besitzen und erfindet ermutigende Nachrichten. Selbstmorde, zu denen Ghettobewohner immer wieder getrieben wurden, hören auf. Jeder wartet auf die Befreiung. Damit diese Hoffung bleibt, muss Jakob immer weiter lügen. Eines Tages entdeckt ein kleines Mädchen, dass Jakob gar kein Radio besitzt und alle Nachrichten erfunden waren. Das Ghetto befindet sich kurz vor der Deportation, doch die Menschen klammern sich weiter an Jakobs Lügen.
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Die bis dato hohe Selbstmordrate im Ghetto sinkt auf Null, Jakob bringt die kleine, schwer erkrankte Lina durch, sein Freund Kowalski, mit dem er nun ganz in vergangenen, glücklichen Zeiten schwelgen kann, macht sich Gedanken darüber, wie er sein verstecktes Geld nach Kriegsende am besten anlegen kann und Mischa will die schöne Rosa heiraten – als ein gegenseitiges Versprechen auf eine hoffnungsvolle Zukunft. Rosas Vater, Herr Frankfurter (Deszö Garas, synchronisiert von Wolfgang Dehler), bleibt Realist. Doch auch ihm geben die erfundenen Nachrichten von der näherrückenden Front neuen Lebensmut und er kann seine Gattin (Zsuzsa Gordon, synchronisiert von Ruth Kommerell) trösten. Jakob ist aber auch sonst gefordert, wird mit immer neuen, schwierigeren Fragen konfrontiert, etwa wie es dem populären Sänger Jan Kiepura geht oder was Winston Churchill zur Kriegslage sagt.
Jakob riskiert sein Leben, um an tatsächliche Informationsquellen zu kommen. So etwa in Gestalt einiger Fetzen Zeitungspapier, die er aus einem „arischen“ Klo stiehlt. Sein Freund Kowalski lässt sich von den deutschen Wachposten zusammenschlagen, um sie von Jakob abzulenken, wenn dieser wieder auf „Beutezug“ geht. Jakob verliert sich immer stärker in seiner Phantasiewelt, träumt von seinem Laden, in dem er einst Kartoffelpuffer verkaufte, und von der attraktiven Josefa (Margit Bara, synchronisiert von Gerda-Luise Thiele), die er heimlich verehrte. Und zieht die kleine Lina so sehr mit in seine Märchenwelt, dass das Mädchen, als sie dahinterkommt, dass Jakob ihr das Radio nur „vorspielt“, einfach mitmacht. Bis am Ende der Befehl zum Abtransport auch ihre Straße des Ghettos erreicht: „Wir verreisen! Wir verreisen!“
„Jakob der Lügner“ ist vielleicht der bemerkenswerteste, weil unideologischste Antifa-Film der Defa, der damals in Westdeutschland seinesgleichen sucht und noch am ehesten mit Louis Malles „Lacombe Lucien“ auf eine Stufe gestellt werden kann. Mit großem Feingefühl werden die Ghettobewohner in ihrem Alltag, ihrem Überlebenskampf porträtiert. Vor allem die beiden Protagonisten Vlastimir Brodsky und Erwin Geschonnek leben geradezu in ihren Rollen, lassen die - erfundene – Geschichte zur bedrückenden Realität werden: Grenzsituationen menschlicher Existenz. Dabei stehen fast skurrile Heiterkeit und feine Ironie neben Verzweiflung und Tod, aufopferungsvolle Kameradschaft neben Brutalität und Mord.
Der auf Orwocolor gedrehte Hundertminüter wurde am 22. Dezember 1974 im Fernsehen der DDR in Schwarzweiß erstausgestrahlt, die DDR-Kinopremiere fand dann in Farbe am 17. April 1975 Berliner Kosmos statt. Drei Monate später als erster DDR-Film im Wettbewerb der 25. Berlinale gezeigt, wurde Vlastimil Brodský als „Bester Darsteller“ mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet. Im Jahr darauf gabs gleich fünfmal den DDR-Nationalpreis zweiter Klasse für Regisseur Frank Beyer, Kameramann Günter Marczinkowsky, Dramaturg Gerd Gericke sowie die Schauspieler Vlastimil Brodský und Erwin Geschonneck.
Dass dieser Film, als einzige Defa-Produktion für den fremdsprachigen Oscar 1977 nominiert, seinerzeit keinen westdeutschen Verleih und damit zunächst nicht den Weg in die bundesdeutschen Kinos fand, ist schon ein Skandal für sich. Den toppt ausgerechnet der FAZ-Kritiker Marcel Reich-Ranitzki, als er zur westdeutschen TV-Erstausstrahlung anlässlich der „Woche der Brüderlichkeit“ im März 1976 zu Papier bringt: „Kein bedeutender und doch ein recht guter Film, gewiß kein Meisterwerk und doch sehenswert.“ Die Ignoranz der westdeutschen Kritik bringt freilich erst Michael Stone in der „Deutschen Zeitung“ zum Ausdruck: Die „Woche der Brüderlichkeit“ sei doch wohl ein inzwischen überflüssiges Relikt endgültig vergangener Zeiten und die DDR sei zu beglückwünschen, dass sie eine solche Woche nicht in ihrem Fest- und Feierjahresprogramm habe. Wie sollte sie auch: Im atheistischen Arbeiter- und Bauernstaat ist für eine solche Woche, die dem Dialog der Christen mit den Juden dient, naturgemäß kein Platz gewesen. Die Folgen lesen wir heute täglich in der Zeitung, allerdings nicht mehr in der „Deutschen“, denn die hat schon lange vor der „Wende“ ihr Erscheinen nach mehreren Fusionen eingestellt.
Pitt Herrmann