Berlinale 2020: Retrospektive "King Vidor"

Der amerikanische Regisseur, Produzent und Drehbuchautor King Vidor (1894–1982) steht im Zentrum der Retrospektive der 70. Internationalen Filmfestspiele Berlin.

 

Vidor nimmt einen zentralen Platz in der Geschichte des US-amerikanischen Kinos ein und hat als einer der wichtigsten Regisseure gegen Ende der Stummfilmära und während der nachfolgenden Blütezeit Hollywoods einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Das Ausloten des Potenzials der Filmsprache und die Auseinandersetzung mit den sozialen Fragen seiner Zeit begleiten sein gesamtes Œuvre.

Vidors filmisches Werk umfasst mehr als 50 Filme, die von Stummfilmklassikern zu gesellschaftspolitischen Themen wie "The Crowd" (1928) über Schilderungen sozialer Umbruchsituationen wie in "Our Daily Bread" (1934) bis zum Western "Duel in the Sun" (1946) und zur epischen Literaturverfilmung "War and Peace" (1956) reichen. 1925 gelang ihm der Durchbruch mit "The Big Parade", der als erster kritischer Film über den Ersten Weltkrieg gilt und für das neugegründete MGM-Studio zu einem großen Erfolg wurde. Vidor entwickelte seine Kunst quer durch alle Genres, stets interessiert an filmtechnischen Innovationen und mit Hingabe an die Arbeit mit den bedeutendsten Schauspieler*innen seiner Zeit.

Carlo Chatrian, der als Künstlerischer Leiter zusammen mit Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek seit Juni 2019 die Leitung der Berlinale innehat: "Wir danken der Deutschen Kinemathek für die umfangreiche Retrospektive. Filminteressierte aller Generationen werden die Gelegenheit haben, erstmals oder erneut eine Reihe großartiger Filme zu sehen, die uns in das Universum eines einzigartigen Filmemachers führen. King Vidor war überzeugt von der Menschlichkeit, die das Kino seinem Publikum vermitteln kann, und hat zu diesem Zweck immer wieder neue filmische Mittel entwickelt. Das macht ihn heute – vielleicht mehr als andere Altmeister, deren Stil klar identifizierbar ist, – zu einer Inspirationsquelle für all diejenigen, die unsere sich rapide verändernde Welt erzählen möchten."

Rainer Rother, Künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen und Leiter der Retrospektive, kommentiert: "Anhand von King Vidors Werk lässt sich nicht nur die Geschichte Hollywoods über 50 Jahre hinweg nachvollziehen, sondern auch die der Vereinigten Staaten in jenem Zeitraum: Von Anfang an griff Vidor in seinen Filmen bedeutende Ereignisse und aktuelle politische Entwicklungen vom Ersten Weltkrieg über die Weltwirtschaftskrise bis zum New Deal auf. Eindrucksvoll ist zugleich seine vielseitige Inszenierungskunst."

King Vidor kannte die glänzenden wie die Schattenseiten des Filmgeschäfts und verarbeitete diese Eindrücke in "Show People" (1928), in dem Marion Davies als unbekannte Slapstick-Darstellerin brilliert, die zur Filmdiva aufsteigt. Klassenfragen und soziale Auf- und Abstiege spielen in Vidors Werk eine ebenso zentrale Rolle wie die Themen Immigration und gesellschaftliche Integration. Letztere behandelt Vidor nuancenreich und oft auch humorvoll in Filmen wie "Street Scene" (1931), "The Wedding Night" (1935), "An American Romance" (1944) und "Japanese War Bride" (1952). In "The Champ" (1931), "Stella Dallas" (1937) oder auch "Ruby Gentry" (1953) dagegen leuchtet er facettenreich das Innenleben von Figuren aus, die sich auf die Suche nach ihrer Identität zwischen verschiedenen Klassen machen. Bevorzugte Darsteller*innen verpflichtete er oft für mehrere Filme. Zu den Stars, die er auf der Leinwand zum Glänzen brachte, zählen Gary Cooper, Joseph Cotten, Marion Davies, Bette Davis, Henry Fonda, John Gilbert, Lillian Gish, Audrey Hepburn, Jennifer Jones und Gregory Peck.

Das Programm der Retrospektive umfasst rund 35 Filme aus fünf Jahrzehnten, die in bestmöglicher Qualität und überwiegend als 35-mm-Filmkopien präsentiert werden. Fünf Filme von King Vidor erhielten eine Oscarnominierung für die Beste Regie: "The Crowd", "Hallelujah", "The Champ", "The Citadel" und "War and Peace". 1978 wurde King Vidors Vielseitigkeit und innovative Kraft mit einem Ehrenoscar für sein herausragendes Lebenswerk ausgezeichnet. Eindrucksvoll bis heute ist seine meisterhafte Choreografie der Massenszenen in "The Crowd", "The Big Parade" und in "War and Peace", aber auch seine Experimentierfreude im Umgang mit Ton und Rhythmus: In "Hallelujah", seinem ersten Tonfilm – er gilt als eine der ersten großen Studioproduktionen mit einem "all African-American cast" – greift Vidor Einflüsse zeitgenössischer Jazzmusik auf. Seinen zweiten Western "Billy the Kid" (1930) filmte Vidor in Schwarz-Weiß auf 35 mm und zusätzlich auf 70 mm – lange vor der Hochzeit dieses Breitfilmformats. Opulent leuchten seine sechs Farbfilme, alle im Technicolor-Verfahren gedreht, darunter "Northwest Passage" (1940), "Man Without a Star" (1955) und "Solomon and Sheba" (1959).

Zur Retrospektive erscheint die zweisprachige Publikation "King Vidor" (deutsch/englisch) im Bertz + Fischer Verlag. Der reich illustrierte Band präsentiert acht Essays von renommierten Filmwissenschaftler*innen und prominenten Cineast*innen, darunter Beiträge zu zentralen Themen in King Vidors Werk: sein besonderes Interesse für gesellschaftspolitische Fragen, seine Western sowie die Frauenfiguren in seinen Melodramen.

Begleitet wird das Filmprogramm der Retrospektive von zahlreichen Veranstaltungen in der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen.

Quelle: www.berlinale.de