Inhalt
Becky und ihr Freund Tommi hausen in einer kleinen, heruntergekommenen Wohnung in Köln. Der Alltag des jungen Paares ist von Ödnis und Frust geprägt, von Streitereien und schlechtem Sex. Verbunden sind die beiden nicht zuletzt durch ihren Hass auf Migranten. Um ihrem Leben endlich eine Perspektive zu geben, wollen sie als Terrorzelle Ausländer bekämpfen – und damit zu "Ruhm" und medialer Aufmerksamkeit gelangen. Zunächst bleibt dies nur eine Fantasie. Doch als das Paar den ebenfalls rechtsradikalen Maik kennen lernt, wird die Idee in die Realität umgesetzt: Gemeinsam ermorden Becky, Maik und Tommi willkürlich ausgewählte Ausländer. Weil die Polizei ihnen nicht auf die Spur kommt, fühlen sie sich sicher und zunehmend unverwundbar. Dadurch werden ihre Mordpläne immer extremer.
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„Irgendwas muss passieren, irgendwas muss sich ändern“ brüllt Becky förmlich heraus – und meint auch den Sex mit dem eher knabenhaft wirkenden Tommi, den sie sich deutlich härter wünscht. Als er 'mal nicht kann, masturbiert sie mit dem Duschkopf in der Badewanne. Ficken, saufen und Ausländer aufmischen – reicht das für den Lebensinhalt? Für Tommi offenbar nicht, schaut er doch heimlich an der Universität vorbei, nachdem er schon vor geraumer Zeit das Studium geschmissen hat. Und spricht auf einem Spielplatz einen Jungen an, spendiert ihm ein Bier. Tommi will sich ganz offenbar schadlos halten an dem Jungen nach der Demütigung durch Becky, aber der kriegt so eben noch die Kurve und läuft davon.
Becky hat es besonders auf Farbige abgesehen, denen sehe man schließlich an, dass sie Ausländer sind. Gleichzeitig träumt sie heimlich vom harten Sex mit „Negern“, aber auch Tommi hat seine - homoerotischen – Phantasien bei der gefühllos-mechanischen Sexakrobatik bis zur Besinnungslosigkeit. Dann wird in besagter Waldlichtung eine selbstgebastelte Bombe getestet – doch der Schnellkochtopf verliert bei diesem Rohrkrepierer noch nicht einmal seinen Deckel. Was eine üble Schimpftirade Beckys nach sich zieht: mit diesem Loser ist eine Neonazi-Terrorzelle mit landesweiter Aufmerksamkeit nicht zu organisieren.
Plötzlich steht mit Maik ein anderes Kaliber von Kerl in der Küche – der macht sogleich auf dicke Eier, worauf Becky voll abfährt und Tommi in die Röhre schauen lässt. Der sich an der Unterhose des Neuen schadlos hält – und nach pädophilen plötzlich auch homoerotische Neigungen offenbart. Der erste gemeinsame Überfall des Trios, dessen Vorbild in der Realität offenbar die NSU-Dreierbande Bönhardt, Mundlos und Zschäpe gewesen ist, auf einen Supermarkt läuft völlig aus dem Ruder – ein Schlachtfest, von Benjamin Loebs Kamera in allen grauslichen Details festgehalten. Wie überhaupt dieser „Bildgestalter“ eine Vorliebe für völlig enthemmte Grenzüberschreitungen entwickelt, die schlichteren Gemütern schnell auf den Magen schlagen können.
Ausgerechnet im Späti-Laden der resoluten Türkin Ayse wird der zweifelhafte Erfolg gefeiert: Koma-Saufen ist angesagt. Was nicht weiter auffällt bei der ausgestellten karnevalistischen Fröhlichkeit in der rheinischen Provinz, gedreht wurde binnen nur zwanzig Tagen in winterlicher Kälte des Januars und Februars 2018 rund um Köln. Wobei sich Tommi mit Susann eine junge, offenbar zu allem bereite Frau an die Seite holt, um nicht weiterhin nur Zuschauer der auch in aller Öffentlichkeit sehr intimen Zweierkiste von Maik und Becky zu sein. Letztere reagiert auf den potentiellen Neuzugang mit im wahren Wortsinn rasender Eifersucht, beißt die Rivalin förmlich weg.
Mit Hilfe eines rechtsradikalen Netzwerkes, dem, hier wird die Parallele zum „Nationalsozialistischen Untergrund“ besonders deutlich, auch staatlicher Stellen wie der V-Mann Watzek angehören, schlüpft das Trio in einer Barackensiedlung unter. In der sich Tommi und Maik sexuell näherkommen, was Becky die Flucht ergreifen lässt: zwei nackte Kerle auf Federvieh-Jagd zwischen ausgemusterten Wohnwagen und sonstigem Gerümpel. Diese Situationskomik erlöst den Betrachter von Sex-Szenen, deren Drastik nur noch ekelhaft ist, was durch ständige Wiederholung nicht besser wird. Nachdem die beiden Kerle 'mal eben so zwei knutschende Polizisten in ihrem Fahrzeug erschossen haben, suchen sie Becky daheim in der gutbürgerlichen Villa ihrer Eltern auf, um das Trio wieder zu komplettieren. Gegen den Widerstand ihrer reichlich naiven Mutter lässt sie sich überreden. Nun geht’s auch im Bett zu dritt weiter: was ekstatisch wirken soll, bleibt rein mechanisch – also langweilig. Immerhin schnattern draußen die Gänse, das bleibt aber leider die einzige selbstironische Zutat, bevor eine aus dem Nichts auftauchende Polizei-Spezialeinheit dem Spuk ein Ende macht zu den Klängen des „Ärzte“-Hits „Schrei nach Liebe“.
Bei der Berlin-Premiere am 18. März 2019 im Prenzlberger Babylon, zu den zahlreichen Promi-Gästen gehörte auch Matthias Brandt, der im unter die Haut gehenden Bonny-Spielfilmdebüt „Gegenüber“ (2007) an der Seite Victoria Trautmannsdorffs einen ehelicher Gewalt ausgesetzten Polizisten spielte, wurde ernsthaft gefragt, warum die Filmemacher diese „Menage a trois im rechten Milieu“ nicht mit einer wilden Lack-und-Leder-Gruppensexorgie samt der Polizisten beendet haben. Dekadenter geht’s nicht, und grauslicher schon gar nicht: Eine fiktive Geschichte, wenn auch an den NSU-Terror angelehnt, sei sein Film, betonte Regisseur Jan Bonny.
Er habe sich den Figuren über die private Ebene angenähert, bewusst nicht über die ideologische. Sexualität und Gewalt drückten den Narzissmus der Protagonisten aus, hier sei auch eine Verbindung etwa zum Linksterrorismus eines Jan-Carl Raspe und der „Roten Armee Fraktion“ der 1970er Jahre vorhanden. „Wintermärchen“ weise ein überraschendes Ende auf, der Polizeieinsatz sei bewusst nicht dramaturgisch vorbereitet worden. Oder lag's einfach nur daran, dass für diese Low-Budget-Produktion ohne Fernseh-Kofinanzierung nicht genügend Zeit blieb? Denn zahlreiche Randfiguren bleiben so unverständlich wie die Motivation der Unterstützer. Jan Bonny: Sein Film über ein Täter-Trio, dessen obszöne Binnenperspektive alle Opfer ausschließt, stelle Fragen, gebe keine Antworten. Bis auf eine: die Sehnsucht nach überregionaler Aufmerksamkeit in dieser unserer medialen Welt motiviert die drei zu immer spektakuläreren Gewaltverbrechen.
„Wintermärchen“ ist im Wettbewerb des Int. Filmfestivals Locarno am 10. August 2018 uraufgeführt worden und wurde bei der Deutschen Erstaufführung am 9. Oktober 2018 beim Kölner Filmfestival als „Bester Spielfilm Made in NRW“ ausgezeichnet. Free-TV-Premiere ist am 15. Februar 2022 auf 3-Sat.
Pitt Herrmann