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Dem Institut für Kybernetik und Simulationsforschung droht die Schließung – so das Ausgangsszenario dieser Satire über die Verwandlung des Universitätsbetriebs in eine turbokapitalistische Forschungsmaschinerie. Phoebe Phaidon nimmt als hochqualifizierte Nachwuchswissenschaftlerin wieder einmal einen befristeten Lehrauftrag an. Mit ihren noch nicht ganz verblassten Idealen als progressive Klimaforscherin agiert sie zwischen den frustrierten, aber kampfbereiten Studierenden, die die Bibliothek besetzen. Auf der anderen Seite: der etablierte Lehrkörper, beim Überlebenswillen im Drittmittelbeschaffungssumpf zu eitlen Zynikern verkommen, die sich vor keiner noch so grotesken Verrenkung im Evaluierungswahnsinn scheuen.
Max Linz komponiert seinen Film mit feinem Gespür für Berliner Befindlichkeiten, städtische Kulissen, Bürodekor und akademische Kostüme. Und mit Lust an der Überzeichnung der dekadenten Uni-Sprache, die ihre Reizwörter wie Köder in der Verhaltensforschung benutzt. Am Ende entwickelt sich der Film fast zu einem Musical – der Ohrwurm "Warum kann es hier nicht schön sein, warum werden wir nicht froh?" könnte zu einer postkapitalistischen Revolutionshymne werden.
Quelle: 69. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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Kapitel 1. Die Klimaforscherin Phoebe Phaidon hat einen Lehrauftrag an das Institut für Kybernetik der Berliner Universität angenommen. Sie soll das Seminar „Einführung in die Simulationsforschung“ der Institutsleiterin Brenda Berger übernehmen, damit diese sich ganz ihrem von Drittmittel-Geldern finanzierten Projekt zur virtuellen Simulation des Klimawandels widmen kann. Es steht viel auf dem Spiel: Nur wenn die Evaluation am Ende des Wintersemesters erfolgreich verläuft, fließen die Fördermittel weiter. Als Phoebe, die versehentlich einen Seminarraum der Uni betreten hat, den Dozenten aus Verlegenheit nach der Cafeteria fragt, lässt Julius Kelp sogleich alles stehen und liegen und lädt die neue Kollegin zum Kaffee ein. Wo beide mit einer Nudging-App konfrontiert werden, die Daten zur Verhaltensökonomie sammelt.
Kapitel 2. Phoebe und Brenda Berger sehen sich Studienmaterial zur Simulation des Klimawandels an, sind aber nicht ganz bei der Sache. Denn mit Alfons Abstract-Wege zieht ein neu berufener Stiftungsprofessor die Aufmerksamkeit auf sich. Der „Vater des Nudging“ arbeitet an einem Projekt zur Ernährungskontrolle, was die Studenten missverstehen: Sie befürchten einen Business-Plan zu ihren Ungunsten und besetzen die Unibibliothek.
Kapitel 3. Eine Unternehmensberaterin (Maryam Zaree) wird hinzugezogen – als Controllerin, welche die ganze Hochschule betriebswirtschaftlich durchleuchten soll unter der Fragestellung: „Wem nützt das denn?“. Aber auch als Motivations-Coach, denn es liegt für die Uni viel Geld auf der Straße, Stichworte sind Greentec und Politikberatung.
In den weiteren fünf Kapiteln reisen Julius und Phoebe zu einem „Utopia“-Kongress nach Gdansk (Danzig). Letztere schaut sich zunächst Sehenswürdigkeiten der Stadt an, wozu natürlich die Lenin-Werft gehört, Ausgangspunkt des Zusammenbruchs der sozialistischen Staaten des Ostblocks, aber auch eine Kirche mit einem Bildnis des Jüngsten Gerichts. In der Arbeitsbesprechung zur Vorbereitung einer Präsentation vor den Sponsoren des Instituts werden generelle Fragen gestellt, auf die es nicht nur nach Julius' Ansicht zu keiner Zeit der Menschheitsgeschichte einfache Antworten gegeben hat, wenn überhaupt: Was ist der Sinn der Wissenschaft? Wie sollen wir leben? Was sollen wir tun? Brenda Berger zeigt sich unzufrieden mit dem aktuellen Stand: Phoebe Phaidon sei schließlich eingestellt worden, „um den Laden am Laufen zu halten“. Und nun störe die Bibliotheks-Besetzung die so notwendige Einwerbung von Drittmitteln. Phoebe und Julius aber kriegen doch noch die Kurve, während es sich Kelps Schildkröte im Salatbuffet der Cafeteria gut gehen lässt. Große Hitze, hohe Luftfeuchtigkeit, Schneefall – die Präsentation vor den Sponsoren wird zur ganz real empfundenen Simulation und damit zum durchschlagenden Erfolg - Apokalypse now...
Die satirische Bestandsaufnahme unseres durchkapitalisierten Hochschulsystems, in dem die Akquise von Fördergeldern wichtiger erscheint als Forschung und Lehre wird am 8. April 2021 vom koproduzierenden Rundfunk Berlin-Brandenburg erstausgestrahlt. Max Linz, der mit seinem Debütstreifen über den Kunstbetrieb reüssierte und gleich mit seinem zweiten Langfilm zur Berlinale eingeladen wurde, kennt den Universitätsbetrieb aus eigener Anschauung. Nach sieben Semestern schloss er sein Filmwissenschafts-Studium an der Freien Universität Berlin mit dem Bachelor-Grad ab, gehörte damit zum ersten Jahrgang nach der Hochschulreform. Anschließend setzte er noch ein Regiestudium an der dffb drauf – und verlangt nun mit illusionsbrechenden Verfremdungseffekten Bertolt Brechts (Kunstsprache) seinem Publikum einiges ab.
Die Erde als Kartoffel, die Umwidmung des bekanntesten protestantischen Kirchenlieds in „Danke für die erhebende Geschichte“, die Schildkröte im Salatbuffet der Mensa – geht alles als Satire durch, wenn auch kaum als „bittere“, wie Till Kadritzke nach der Uraufführung im „Spiegel“ geschrieben hat. Aber: Was bitte ist Nudging? Was verhandelt Stafford Beers „Project Cybersyn“, was hat „Kybernetik im sozialistischen Chile“, was haben historische (Hochschul-) Aufnahmen vom Pinochet-Putsch gegen Salvador Allende mit Exzellenz-Universitäten des 21. Jahrhunderts zu tun? Und wieso die jahrhundertealte Darstellung der Apokalypse in einer Danziger Kirche? Kann Max Linz, wird er danach gefragt wie zum „Europäischen Kinotag“ 2019 im Berliner Centre Francais von Kinobetreiberin Anne Lakeberg, minutiös und einleuchtend erklären.
Gedreht u.a. im Institut für Mathematik der Technischen Universität Berlin, dessen Architektur paradigmatisch für die Reformuniversitäten der 1969er und 1970er Jahre steht, hat sich Max Linz in seiner durchaus politischen Komödie gegen neoliberale Entwicklungen der Hochschulen auch an Rainer Werner Fassbinders Science-Fiction-Zweiteiler „Welt am Draht“ aus dem Jahr 1973 orientiert, in dem der geniale Wissenschaftler Professor Vollmer (Adrian Hoven) in seinem Institut für Kybernetik und Zukunftsforschung mit Hilfe des elektronischen Computer-Monstrums „Simulacron“ eine künstliche Welt geschaffen hat, die von Menschen bewohnt wird, welche nicht wissen, dass sie nur im Laborversuch existieren, mit dem politische, gesellschaftliche und ökonomische Vorgänge der Zukunft möglichst exakt simuliert werden. Die Lebensgefährtin des Regisseurs, die Theaterwissenschaftlerin Sarah Ralfs, die schon in seinem Erstling „Ich will mich nicht künstlich aufregen“ (2014) die Hauptrolle gespielt hat, führt am leicht optimistischen Ende von „Weitermachen Sanssouci“ in einem Bachlauf ihre Forschungen ungerührt fort, als sei nichts gewesen. An ihrer Seite aber setzt die große Diva der alten Castorfschen Volksbühne, Sophie Rois, mit ihrer unvergleichlichen Leinwandpräsenz in Auftreten und Stimme die Akzente.
Pitt Herrmann