Seitensprung

DDR 1979/1980 Spielfilm

Inhalt

Edith und Wolfgang sind seit einem Jahrzehnt miteinander verheiratet – glücklich, wie Edith glaubt. Doch Wolfgang führt all die Jahre hindurch ein Doppelleben: Alltag mit Frau und Sohn, die Sonntage mit Helene, der Geliebten, und mit Sandra, beider 12-jähriger Tochter. Die Wahrheit kommt ans Licht, als Sandra nach dem tödlichen Unfall ihrer Mutter Hilfe bei der Familie ihres Vaters sucht. Das Mädchen durchschaut, was in diesem "Paradies" vor sich geht. Entschlossen, sich nicht "anzupassen", nicht zu heucheln und zu lügen, begehrt es auf und zerreißt, rigoros im unbedingten Willen zur Ehrlichkeit, das Lügennetz, das der Vater gesponnen hat. Nach anfänglicher heftiger Ablehnung beginnt Edith sich ihres Versagens bewusst zu werden. Vorsichtig versucht sie Zugang zu Sandra zu finden.

 

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Heinz17herne
Heinz17herne
Zeit für guten Filterkaffee muss sein beim Arbeitsbeginn im Schweriner Postamt: Edith, die für solche „Pedanterie“ im Kolleginnenkreis leise belächelt wird, steht nach Feierabend in der kleinen Frauentags-Runde mit Kaffee, Kuchen und Nordhäuser Korn im Mittelpunkt. Sie müsse doch nun wirklich zufrieden sein mit ihrem Leben „wie im Paradies“ – mit Mann Wolfgang, fünfjährigem Sohn Danilo, begehrter Neubau-Wohnung und Arbeit. Im Gegensatz zum einzigen Mann in der Runde, dem Chef Richard: der beklagt den neuen sozialistischen Zeitgeist in Person seiner Tochter, die ihm jetzt einen Schwiegersohn präsentiere, der drei Jahre älter ist als er.

Noch eine Betriebsfeier – Frauentag auch im Kaufhaus. Auch hier ist ein Mann der Chef, ein junger dazu: Wolfgang. Der kommt mit seiner lockeren Art gut an im Kreis der Kolleginnen, und ganz offenbar besonders bei Helene, die er nach der Fete nach Hause begleitet, wo er von deren Tochter Sandra ganz selbstverständlich liebevoll empfangen und beim Sex mit der Mutter im Wohnzimmer nicht gestört wird. Was kein Wunder ist: die Zwölfjährige ist auch Wolfgangs Tochter. Der entscheidungsschwache Hallodri, der der vergleichsweise attraktiven und lebensfrohen Geliebten schon seit Jahren versprochen hat, sich scheiden zu lassen, kehrt also arg verspätet zur naturgemäß sogleich argwöhnischen Edith zurück. Die von der einstigen Liaison ihres Gatten weiß, nicht jedoch, dass die Beziehung bis heute andauert.

„Man kann sich doch nicht vor seinen Verpflichtungen drücken“: Helene ist tödlich verunglückt und nun steht Sandra bei Edith und Wolfgang auf der Matte. Danilo ist über die neue große Schwester gar nicht mal so unglücklich, auch wenn er mit ihr künftig ein Zimmer teilen soll. Auch die Post-Kolleginnen zeigen sich solidarisch, schicken die zweifache Mutter wider Willen nach Hause, damit sie sich mit Sandra befassen und nach Möglichkeit anfreunden kann. Alles lässt sich auch ganz gut an, das Mädchen hilft im Haushalt und spielt mit ihrem Halbbruder. Doch dann verplappert sie sich ungewollt: am Frauentag war Wolfgang bei Helene. Dessen über Jahre währendes Doppelleben ist für Edith zu viel: sie setzt ihn nicht gleich vor die Tür, sein Bettzeug aber liegt auf dem Sofa. Unterstützt von ihrer Mutter stellt sie ihrem Gatten ein Ultimatum: entweder er willigt ein, dass Sandra in ein Heim kommt, oder sie lässt sich scheiden. Mit den Folgen, dass er nicht nur die Wohnung, sondern auch Sohn Danilo verliert.

„Du hast doch nichts vermisst“ wagt Wolfgang zaghaft entgegenzuhalten und sein eigenes Handeln zu verteidigen: „Man kann doch zwei Menschen gern haben.“ Sandra hat längst durchschaut, dass die Ehe mit der eher herben, pedantischen Edith kein „Paradies“ gewesen ist und versucht, ihren Vater auf ihre Seite zu ziehen. Auch wenn ein Heimaufenthalt droht, will sie sich nicht verbiegen, anpassen und Familiensinn heucheln. Doch als die Post-Kolleginnen Klamotten für „die Kleine“ sammeln, ist diese bereits im nach Anne Frank benannten Heim irgendwo in der Walachei.

Sandra sucht die Nähe des jungen Heimerziehers Peters. Der zeigt Verständnis für ihre Verzweiflung, kann aber keine Sonderbehandlung zulassen und beschwört Wolfgang, sich um seine Tochter zu kümmern. Edith ist einverstanden, Sandra mit in den gemeinsamen Ostsee-Urlaub zu nehmen. Die finale knappe Bildfolge aus den Ferien am Strand lässt keine Prognose zu, ob die Familienzusammenführung auf Dauer von Erfolg gekrönt wird.

Evelyn Schmidt bekundete im Gespräch mit Cornelia Klauß, Ko-Kuratorin der im August und September 2019 gezeigten Reihe „Sie – Regisseurinnen der Defa und ihre Filme“ im Berliner Zeughauskino, dieser offene Schluss habe zu einem langen Diskussionsprozess mit den „Verantwortlichen“ der Defa und der Hauptverwaltung Film der SED geführt. Die Regisseurin versteht die Bilder des streitenden Ehepaars als positives Zeichen: die Funkstille zwischen Edith und Wolfgang ist vorbei, sie streiten sich wieder und damit ist endlich der Normalzustand der Ehe wiederhergestellt.

„Seitensprung“ entstand in einer künstlerischen Aufbruchzeit in der DDR und speziell der Defa. Die Biermann-Ausbürgerung 1976 war ein tiefer Einschnitt, zahllose populäre Stars verließen in Folge die DDR und ganze Filmkonvolute wurden in den Babelsberger Giftschrank gesperrt. Im Jahr darauf wurde Hans Dieter Mäde Generaldirektor der Defa und neuer Wind zog in die Studios ein. Evelyn Schmidt, erste Meisterschülerin von Konrad Wolf, konnte als erste weibliche Hochschulabsolventin ihren Debütfilm drehen. Zu Beginn des Jahres 1980 kamen gleich zwei Publikumserfolge parallel in die DDR-Kinos: „Solo Sunny“, Konrad Wolfs letzter Defa-Spielfilm, und „Seitensprung“, der es im Schatten des Ersteren auf 300.000 Besucher schaffte. Was sicherlich auch dadurch befördert wurde, dass erst- und bislang einmalig Meister und Meisterschülerin auf der Berlinale in West-Berlin vertreten waren: „Solo Sunny“ lief im Wettbewerb und „Seitensprung“ im Forum des internationalen Films.

Evelyn Schmidt zeigt in ihrem Debütfilm bewusst ein Frauenbild, das sich von der staatlichen Propaganda unterscheidet. Renate Geißlers Edith ist als kleinbürgerliches Wesen in ihrem Denken begrenzt. Von den großgemusterten Farbtapeten der Neubau-Wohnung bis hin zu den Kostümen erscheint alles als auf modern getrimmte Spießigkeit in geschmacklicher Normierung. Der Stillstand in der Beziehung der beiden im bürgerlichen Leben etablierten Eheleute entspricht, so die Regisseurin, dem Stillstand in der Gesellschaft. Dennoch ist auch „Seitensprung“ in Maßen eine Emanzipationsgeschichte, löst sich doch Edith zumindest zeitweise von ihrem entscheidungsschwachen Mann. Auch in dieser Dreiecksgeschichte sind Männer die Chefs, im Postamt wie in der Kaufhalle, und die Frauen haben neben dem Beruf noch Stress mit Einkauf, Familie und Kindern. Was die offiziös propagierte Selbstfindung der Frau in der Gesellschaft des real existierenden Sozialismus in der DDR doch sehr fraglich erscheinen lässt.

Großes Lob der Regisseurin für Annette Voss, die Laien-Darstellerin der Sandra: Sie sei eine klare, ganz in sich ruhende junge Heranwachsende gewesen, aus einer religiösen Schweriner Restauratorenfamilie stammend – und übe heute selbst den Beruf der Restauratorin aus. Auf „Seitensprung“ folgte für Evelyn Schmidt 1982 „Das Fahrrad“, und damit sei sie „voll auf die Schnauze geflogen“. Die Emanzipationsgeschichte einer alleinerziehenden Mutter, wieder gezeigt auf der 69. Berlinale 2019 in der Retrospektive „selbst bestimmt – Perspektiven von Filmemacherinnen“, wurde von den Zensoren als „verwirrend“ und „misslungen“ eingestuft, fand unisono auch keine Zustimmung in der Kritik, durfte aber in einigen Studio-Kinos gezeigt werden.

Pitt Herrmann


Credits

Alle Credits

Dreharbeiten

    • Schwerin, Warnemünde, Berlin, Potsdam, Caputh, Schlaborn
Länge:
2324 m, 85 min
Format:
35mm, 1:1,66
Bild/Ton:
Orwocolor, Ton
Aufführung:

Uraufführung (DD): 14.02.1980, Berlin, Colosseum;
Kinostart (DD): 15.02.1980

Titel

  • Originaltitel (DD) Seitensprung
  • Originaltitel (DE) Seitensprung (Digital restaurierte Fassung 2019)

Fassungen

Restaurierte und digitalisierte Fassung

Abschnittstitel
  • Originaltitel (DE)
  • Seitensprung (Digital restaurierte Fassung 2019)
Aufführung:

Erstaufführung (DE): 03.05.2019, Schwerin, Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern

Original

Länge:
2324 m, 85 min
Format:
35mm, 1:1,66
Bild/Ton:
Orwocolor, Ton
Aufführung:

Uraufführung (DD): 14.02.1980, Berlin, Colosseum;
Kinostart (DD): 15.02.1980