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Fast zehn Jahre nach dem Unfalltod ihres Sohnes treffen sich Lucas und Edith wieder, weil dessen Grab wegen einer möglichen Vergiftung des Friedhofsbodens verlegt werden soll. Es ist nur ein kurzes Wiedersehen, doch während des Wartens auf die Verantwortlichen kommen der mühsam verdrängte Schmerz und die Wut wieder hoch und führen zu neuen Auseinandersetzungen zwischen dem getrennten Paar. Aber auch die frühere Nähe und Vertrautheit wird wieder spürbar und gipfelt in einem intensiven Gefühlsausbruch, der auch offenbart, wie sehr sich beide verändert haben.
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Sie erreicht das Grab ihres Kindes mit dem Fahrrad als Erste. Und will sich heimlich davonschleichen, als er eintrifft. Betretene Stille, nervöse Befangenheit. Worüber sprechen, wenn man sich nach so langer Zeit wiederbegegnet? Über das Wetter, das geht immer. Und über die Blumenzwiebeln, die sie am Grab ihres gemeinsamen Sohnes Jacob zu pflanzen gedenkt. Obwohl dieses mit 200 weiteren Grabstellen verlegt werden soll, weil Gift im Boden gefunden worden ist. So steht es jedenfalls im Brief der Friedhofsverwaltung.
Am 31. Dezember 1999, in der Millennium-Nacht, haben die beiden, durch einen zu schnell fahrenden Autolenker, erst ihren Sohn verloren und dann einander – und schließlich sich selbst. Nach Jacobs Beerdigung sind sie getrennte Wege gegangen, um das größte mögliche Unglück zu verarbeiten: Während er in den Niederlanden noch einmal von vorn begonnen und vor zweieinhalb Jahren mit der nun schwangeren Valerie eine neue Liebe gefunden hat, ist sie im gemeinsamen Haus in Vianden wohnen geblieben und hält weiterhin Kontakt zu seiner Mutter.
„Ich hasse Glück, ich hasse glückliche Menschen“: Sie hat sich ganz in ihrer Trauer eingekapselt. Jeder Gedanke an eine Veränderung ihrer äußeren Umstände bereitet ihr geradezu körperliche Schmerzen, obwohl sie sich sehr einsam fühlt. Und sich uneingestanden und heimlich nach einem Partner, nach „dem“ Partner sehnt, um mit ihm ihre Trauer zu teilen.
„Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll“: Edith ist so nervös, dass sie erst einmal auf die Toilette gehen muss. Wohin sie die Kamera Judith Kaufmanns verfolgt in der genrebedingten Notwendigkeit einer dauernden Bebilderung: bewusste Leerstellen dieses für die Bühne geschriebenen Kammerspiels lassen sich nicht auf die Leinwand übertragen.
Aber Lucas, der ein neues Leben begonnen hat, ohne das bisherige zu löschen, ist kaum weniger unsicher. Als er es wagt, die Zurückgekehrte leicht zu berühren, kreischt diese laut auf: „Nicht anfassen!“ Edith, die mit Schlaftabletten und Schokolade zu kompensieren versucht, dass ihr Traum von einem Neuanfang mit Lucas unerfüllt bleiben wird, ist durchaus zur Selbsterkenntnis fähig: „Leiden macht süchtig. Dafür müsste es Entzugsanstalten geben.“ Sie ist darüber entsetzt, dass Lucas an einem Buch über den Unfall des Sohnes und die Folgen für ihre Ehe schreibt. Und resümiert bitter: „Was habe ich hieraus zu lernen? Nichts. Dass das Leben Scheiße ist. Manchmal. Für manche Leute so richtig Scheiße.“
In dem am 18. Dezember 2009 am Niederländischen Theater Gent durch den heutigen Bochumer Schauspielhaus-Intendanten Johan Simons uraufgeführten und inzwischen in der ganzen Welt gespielten Erfolgsstück „Gif“ („Gift. Eine Ehegeschichte“) der holländischen Theatermacherin Lot Vekemans geht es um den Versuch zweier Menschen, ihre Sprachlosigkeit, die Kluft, die der Schmerz über den Tod des Kindes gerissen hat, nach zehn Jahren zu überwinden. Und zumindest aus Sicht der Frau auch darum, Halt zu finden in gemeinsamer Erinnerung – und letztlich auch in körperlicher Annäherung. Weshalb sie es gewesen ist, die den nur scheinbar von der Behörde verfassten Brief geschrieben hat...
Die Regisseurin Désirée Nosbusch hat das kammerspielartige Geschehen in eine Unesco-Welterberegion ihrer Heimat Luxemburg verlegt. Das attraktive Setting kommt freilich an das unmittelbare, unter die Haut gehende Live-Erlebnis eines Zwei-Personen-Stücks, etwa Heike M. Götzes Bochumer Inszenierung 2015 mit Dietmar Bär und Bettina Engelhardt, nicht heran. Die Emotionen beider Protagonisten verhallen im Raum der Friedhofskapelle. Andererseits erfindet die abwechselnd in Luxemburg und Berlin lebende Regisseurin intime Szenen wie den Rückblick auf ein gemeinsames Orgelspiel, einen Spaziergang hinauf zur Burg oder ein Unterschlüpfen vor einem Regenschauer in seinem Auto bei Wein und Käse. Zur finalen Umarmung fokussiert die Kamera auf einen Vogelzug am Himmel – das Leben geht weiter.
Pitt Herrmann