Inhalt
In einem (fiktiven) Verhör 1949 durch den polnischen Geheimdienst erzählt Marcel Reich-Ranicki seine dramatische Lebensgeschichte, die in Rückblenden gezeigt wird:
Er wird 1920 in Wloclawek in Polen geboren und geht in Berlin zur Schule, darf aber nicht studieren, da er Jude ist. Wenige Monate nach seinem Abitur 1938 wird er nach Warschau ausgewiesen und 1940 ins Warschauer Ghetto umgesiedelt. Dort lernt er trotz seiner hoffnungslosen Situation die Liebe seines Lebens kennen: Der Hochzeitstag mit Teophilia (genannt Tosia) fällt auf den Beginn der Räumung des Ghettos. Die Eltern von Ranicki, sein Bruder und die Mutter von Tosia werden in verschiedene Vernichtungslager deportiert, wo sie später ermordet werden. Reich-Ranicki gelingt mit seiner Frau die Flucht aus dem Ghetto in den Untergrund von Warschau.
In den 1950er Jahren entschließen sich die beiden zu einem außergewöhnlichen Schritt – sie gehen zurück nach Deutschland, da Ranicki trotz seiner Erlebnisse die Liebe zur deutschen Literatur und Sprache geblieben ist. In der Bundesrepublik wird er zu einem der einflussreichsten Literaturkritiker.
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Reich-Ranicki blickt im Gespräch mit diesem ideologisch zwar unerbittlichen, zusehends aber neugierigen und letztlich gar faszinierten Verhörer auf sein Leben zurück, das 1920 als Sohn deutsch-polnischer jüdischer Eltern im polnischen Wloclawek begann. Von der Mutter Helene und dem Vater David Reich nach Kräften gefördert, führt sein Weg nach finanziellen Problemen des Letzteren schon in jungen Jahren zu Tante Else nach Berlin und damit 1929 in das „Land der Kultur“, wo Marcel in einem großbürgerlich-jüdischen Ambiente aufwächst und auf einem deutschen Gymnasium sein Abitur ablegt. Schon früh reift sein Entschluss, Kritiker zu werden, heran. Denn Marcel hat sich im Bestreben, als Pole auf dem Charlottenburger Gymnasium der Klassenbeste zu sein, so intensiv wie kein zweiter seines Alters mit der deutschen Literatur auseinandergesetzt. Die ihn künftig ein Leben lang begleiten wird, auch in noch so ausweglos erscheinenden Situationen.
Und die kommen rascher als erwartet: Nach dem Sieg der Nationalsozialisten und den Rassegesetzen darf Marcel in Deutschland nicht studieren und wird 1938 nach Polen ausgewiesen. Nach dem Überfall Deutschlands auf Polen und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs werden Marcel und seine Familie in Warschau als Juden interniert. Durch seine guten Sprachkenntnisse gelingt es Marcel, eine führende Position im Ghettorat einzunehmen. Er lernt Theophila, genannt Tosia, kennen und heiratet sie im buchstäblich letzten Augenblick vor dem Abtransport ins Konzentrationslager. Wie durch ein Wunder überleben die beiden die Räumung der Ghettos im Februar 1943 und den Krieg - im Keller eines polnischen Schriftsetzers.
Warschau 1952. Marcel Reich-Ranicki ist Lektor in einem Verlag, der - wie die anderen Häuser in Polen – keinen deutschen Autor ins Programm nehmen will: Die Sprache Hitlers ist auch in polnischer Übersetzung tabu. Warschau 1956. Heinrich Böll (Heinrich Schütz) kommt auf Reich-Ranickis Einladung zu einer Lesung in die polnische Hauptstadt, doch niemand will den deutschen Schriftsteller hören. Marcel und Tosia, die sich lange dagegen gewehrt hat, beschließen, nach West-Deutschland zu gehen. Was auch für Marcels polnische Freunde, die einstigen KP-Genossen gar, wie eine Provokation aufgenommen wird. Frankfurt/Main 1958. Marcel Reich-Ranicki kann im Feuilleton der FAZ beginnen. Seine steile Kritiker-Karriere führt ihn von 1973 bis 1988 zur Ressortleitung Literatur bei der angesehensten deutschen Tageszeitung und anschließend bis 2001 zum Gastgeber der bis heute in ihrer Popularität unerreichten TV-Literatursendung „Das literarische Quartett“...
Das Drehbuch Michael Gutmanns basiert zwar auf der gleichnamigen, 1999 erschienenen Autobiographie Reich-Ranickis, beschränkt sich aber auf die Jahre zwischen 1929 und 1958, also zwischen Marcels achtem und 38. Lebensjahr. Dafür gibt es gute Gründe: Der israelische Regisseur und Potsdamer „Konrad Wolf“-Hochschulabsolvent Dror Zahavi kann so die Überlebensgeschichte Marcels und Tosias in seinem in Rückblenden erzählten Film, dessen Rahmenhandlung frei erfunden ist, ganz in den Mittelpunkt stellen. Was Kameramann Gero Steffen Gelegenheit zu spektakulären Bildern gibt, die – bei Biopics heute offenbar unausweichlich - mit historischen Schwarzweiß-Aufnahmen „verschnitten“ und, noch schlimmer, mit einer schier unerträglichen Tonspur unterlegt werden. Warum Marcel Reich-Ranicki jedoch zum deutschen „Literaturpapst“ avancierte, obwohl er es weder sich noch anderen in seiner Umgebung jemals leicht gemacht hat, warum dieser polnische Jude und frühere Kommunist also ausgerechnet bei der konservativen FAZ landen konnte und nicht in irgendeinem Lektorenbüro versauerte, erzählt uns der Film nicht. Wie er auch unterschlägt, dass Reich-Ranickis Kritikerkarriere in den 1960er Jahren bei der großbürgerlich-liberalen „Zeit“ begann und nicht gleich bei der Frankfurter Allgemeinen.
Unter dem Strich bleibt ein dank der so unspektakulär-einfühlsamen Spielweise der Protagonisten Matthias Schweighöfer und Katharina Schüttler sehenswerter Fernsehfilm, der Lust macht, die gedruckte Biographie „Mein Leben“ in die Hand zu nehmen. Für die Titelrolle wurde Matthias Schweighöfer 2010 zweimal ausgezeichnet: Goldene Kamera („Bester deutscher Schauspieler“) und Jupiter Award („Bester TV-Darsteller Deutschland“).
Pitt Herrmann