Inhalt
Die junge Maria lebt zwischen zwei Welten. In der Schule ist sie das 14-jährige Mädchen mit den typischen Interessen eines Teenagers. Zu Hause, in ihrer Familie, folgt sie den Lehren der Priesterbruderschaft Pius XII. und deren traditionalistischer Auslegung des Katholizismus. Alles, was Maria denkt und tut, muss die Prüfung vor Gott bestehen. Und weil dieser ein strenger Hüter ist, bleibt die Furcht vor dem Fehltritt ihre stete Begleiterin. Während Marias Mutter ihre Tochter mit harter Hand auf den Weg des Glaubens zwingt, schweigt der Vater meist und schaut in kritischen Momenten tatenlos zu. Als es zu Auseinandersetzungen mit Lehrern und Ärzten kommt, verstärken sich die Konflikte. Maria versucht verzweifelt, es allen recht zu machen und gerät so immer mehr ins Kreuzfeuer. Wie sind die Gefühle, die sie für einen Schulkameraden hegt, mit dem Gebot der reinen Gottesliebe zu vereinbaren? Fordert der Herr ein gewaltiges Opfer, damit ihr kleiner Bruder von seiner Krankheit geheilt wird?
Dietrich Brüggemann entfaltet das Seelenleiden seiner jungen Protagonistin in den 14 Bildern des Kreuzwegs – von "Jesus wird zum Tode verurteilt" bis "Der heilige Leichnam Jesu wird ins Grab gelegt".
Quelle: 64. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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Krankheiten sind nach diesen katholischen Fundamentalisten, welche die in den 1960er Jahren offiziell abgeschaffte traditionelle lateinische Messe zelebrieren, Strafen Gottes für Sünden. Und wenn diese „Sünder“ noch sehr jung sind wie Marias vierjähriger Bruder Johannes, der noch kein einziges Wort gesprochen hat, so ist auch dies als Zeichen Gottes anzusehen: die Auserwähltheit der Soldaten Christi tritt gerade im frühen Kindesalter zutage und dadurch, dass diese dann sehr früh vom himmlischen Vater heimgeholt werden. Solch' blanker Unsinn trifft bei Maria auf fruchtbaren Boden. Sie bewundert zwar die Offenheit, das reife, erwachsene Auftreten des im Übrigen auch katholisch-gläubigen französischen Au-Pair-Mädchens Bernadette, ihrer einzigen Vertrauten, fühlt sich aber gerade durch das herrische Auftreten ihrer Mutter genötigt, selbst in die Opferrolle zu schlüpfen – für ihren kleinen Bruder. Während ihr Vater und ihre jüngeren Geschwister, der elfjährige Thomas und die siebenjährige Katharina, weitgehend unbehelligt gelassen werden, wird Maria von ihrer Mutter stets verantwortlich gemacht – einfach für alles, was der gegen den Strich geht.
Als sie in der Schulbibliothek Christian aus der Parallelklasse kennen lernt, der sie in den Kirchenchor seiner katholischen Don Bosco-Gemeinde einlädt, ist Maria nicht abgeneigt. Sie erfindet sogar eine Schulfreundin, um von ihrer Mutter die Erlaubnis zum Besuch einer Chorprobe zu erhalten. Doch diese reagiert sogleich aggressiv, will ihre Tochter gar aus dem Auto werfen: Bach-Musik ginge ja noch an, aber Soul und Gospel? Teufelszeug! Pater Weber ist später bei der Beichte, einer von mehreren intensiven, minutenlang ungeschnittenen Sequenzen, die mit statischer Kamera gedreht wurden, der gleichen Auffassung: als Soldatin Gottes kann es keine Kompromisse geben, nicht im Glauben und nicht in der Lebensführung. Christian ist danach für Maria kein Thema mehr. Im Gegenteil: Plötzlich wehrt sich Maria gegen die als „satanische Rhythmen“ bezeichnete weltliche Popmusik der Sportlehrerin beim Aufwärmen im Unterricht. Und zieht sich völlig von ihrer schulischen Umgebung zurück.
Als sie bei ihrer Firmung zusammenbricht, diagnostiziert der Arzt Untergewicht am Rande zur Magersucht. Die er mit Mobbing in der Schule oder gar Misshandlungen im Elternhaus in Verbindung bringt. Gegen den Willen der Mutter lässt er Maria in ein Krankenhaus einweisen, wo diese ihrer Vertrauten Bernadette offenbart, sich Gott vollständig opfern und damit ihren kleinen Bruder heilen zu wollen. Das entsetzte Au-Pair-Mädchen versucht, ihr diesen Gedanken mit Hilfe der Ärzte auszureden. Doch jede medizinische Hilfe (Anna Brüggemann in einer kleinen Episodenrolle) kommt zu spät – und die geistliche ist, in Form einer Hostie, der letzte Nagel zum Sarg, der beim Bestatter Feuerbach in besonders opulenter Ausstattung bestellt wird. Denn das von Maria herbeigesehnte Wunder ist geschehen: in dem Moment, wo die Oblate, die ihr Pater Weber bei der letzten Ölung in den Mund schiebt, einen Atemstillstand auslöst, spricht der kleine Johannes die ersten Worte. Nun scheint einer Seligsprechung Marias nichts mehr im Weg zu stehen...
„Kreuzweg“ geht unter die Haut. Was am ja keineswegs fiktiven, sondern leider allzu realen Thema liegt, das einen abwechselnd sprachlos und wütend macht, an der filmischen Umsetzung mit bis zu zehnminütigen ungeschnittenen Sequenzen, die sich an den mit Zwischentiteln angekündigten vierzehn Kreuzweg-Stationen orientieren zwischen „Jesus wird zum Tode verurteilt“ und „Der heilige Leichnam Jesu wird in das Grab gelegt“. Nicht zuletzt liegt die persönliche, geradezu körperlich empfundene Betroffenheit des Kinozuschauers an der grandiosen Besetzung. Um mit Florian Stetter zu beginnen, der auf der 64. Berlinale auch in Dominik Grafs „Die geliebten Schwestern“ glänzte: Sein Pater Weber ist „die“ Sympathiefigur schlechthin, jedenfalls auf den ersten Blick. Er ist jung, er ist verständnisvoll, er ist bis zu einem gewissen Grad nachsichtig. Einerseits. Andererseits ist das geduldige Zuhören und sein Verständnis, dass der Beichtvater für seine Schützlinge im Allgemeinen und für Maria im Besonderen aufzubringen scheint, nichts anderes als inquisitorisches Nachfragen, um jeden äußeren Einfluss abzuwehren.
Lea van Acken, die auf der Freilichtbühne Bad Segeberg bei den Karl-May-Festspielen erste darstellerische Erfahrungen sammelte, spielt ein junges, vergleichsweise reifes und intellektuell auf hohem Reflexionsniveau stehendes Mädchen, dass sich durch ihre Familie, aber auch durch einen fundamentalistischen Pater geistig verführt sehend in den Abgrund stürzt. Dass die beiden Filmemacher der Gefahr einer nachträglichen Absolution dieser in meinen Augen geradezu kriminellen Gehirnwäsche nicht entgangen sind, gehört für mich zu den Unbegreiflichkeiten dieses Films, der am 13. Februar 2017 auf Arte erstausgestrahlt worden ist. Sie lassen das apostrophierte „Wunder“ der Heilung des Vierjährigen tatsächlich geschehen, vom einzigen Kameraschwenk am Ende einmal ganz abgesehen, der von der Vogelperspektive auf das von Christian besuchte noch frische Grab Marias in die Wolken des Himmels führt und sich eindeutig auf die Wiederauferstehung Christi bezieht. Dietrich Brüggemann im Presseheft: „Wo ist der Missbrauch im System? Was passiert, wenn niemand seine gesteckten Grenzen überschreitet, sondern der Pfarrer einfach seinen Firmunterricht erteilt und die Eltern nach bestem Gewissen ihre Kinder großziehen? Ist allein das schon Missbrauch, und zwar nicht punktuell und sexuell, sondern global und seelisch?“
Pitt Herrmann